Gesund

Ein Feigling stirbt tausend Tode, ein mutiger Mensch nur einen

Mein Leben mit MS:

Hallo und herzlich willkommen bei MS-Voices! Ich bin Irene, und hier dreht sich alles um das Leben mit Multipler Sklerose (MS). Als ich vor einigen Jahren die Diagnose erhielt, hat sich mein Alltag auf den Kopf gestellt – und ich war plötzlich mit unzähligen Fragen, Ängsten und Herausforderungen konfrontiert. In diesem Blog möchte ich meine persönlichen Erfahrungen mit euch teilen und Menschen eine Stimme geben, die unter MS leiden. Wie ist das wirklich, mit MS zu leben? Wie verändert es den Alltag, die Beziehungen und die Zukunftsplanung? Hier gibt es ehrliche Einblicke, praktische Tipps und die ein oder andere Anekdote aus meinem Leben – direkt aus dem Herzen einer Betroffenen.

Vor ein paar Tagen hat Jens diesen Satz gesagt:
„Ein Feigling stirbt tausend Tode, ein mutiger Mensch nur einen.“

Und der hat sich bei mir festgehakt.
Letzte Nacht lag ich mal wieder wach. Nachts startet bei mir meistens die Denkfabrik. Ich wünschte, ich könnte sie manchmal einfach abschalten – aber hin und wieder spuckt sie auch echte Erkenntnisse aus. So wie diesmal. Plötzlich hat alles Sinn gemacht.

Du kennst das bestimmt – dieser Moment, in dem auf einmal alles zusammenpasst. Bei mir war’s die Erkenntnis:
Hinter jeder verdammten Wut steckt eigentlich Angst.
Und genau das wollte ich mal aufschreiben, alleine schon aus dem Grund, damit ich es verinnerliche. Du weißt ja: durch die Hand in den Kopf.

Die Sache mit der Wut

Drei Situationen sind mir sofort eingefallen – und alle haben mich ziemlich umgehauen:

Beispiel 1: Die Fatigue-Falle
Du liest einen Artikel über MS-Fatigue – darüber, wie Menschen dadurch arbeitsunfähig werden. Und sofort kommt Wut hoch: auf das Gesundheitssystem, auf ignorante Arbeitgeber, auf die ganze Ungerechtigkeit.
Aber wenn man mal kurz innehält, merkt man: Eigentlich steckt da Angst hinter.
Was, wenn meine Fatigue schlimmer wird? Was, wenn ich irgendwann nicht mehr arbeiten kann? Was, wenn ich finanziell abhängig werde? Und so weiter.

Beispiel 2: Der Schub-Schock
Jemand aus der MS-Gruppe erzählt von einem heftigen Schub, der ihn ins Krankenhaus gebracht hat. Du bist sauer – auf die Ärzte, auf das Kortison, auf alles.
Aber eigentlich ist da Angst:
Was, wenn mir das auch passiert? Was, wenn meine Therapie nicht anschlägt? Was, wenn ich im Rollstuhl lande?

Beispiel 3: Die Medikamenten-Panik
Du hörst von Nebenwirkungen einer MS-Therapie und drehst innerlich durch. Big Pharma, Studien, Risiken – das ganze Programm.
Aber auch hier: Angst.
Was, wenn ich die falsche Entscheidung getroffen hab? Was, wenn mein Körper das nicht packt?

Zwischen Wut und Angst: Was im Körper passiert


Wenn du wütend bist, denkt dein Körper, er muss kämpfen – im wahrsten Sinne. Das Stresssystem springt an: Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol – alles wird hochgefahren. Blutdruck rauf, Herzfrequenz rauf, Tunnelblick.
Aber der Clou ist: Dieses System wird nicht durch „echte“ Gefahr ausgelöst, sondern durch Angst. Angst davor, die Kontrolle zu verlieren. Angst vor Krankheit. Angst vor Ohnmacht. Und weil Angst schwer zu ertragen ist, schaltet der Körper auf Wut um – weil sich das stärker anfühlt. Kontrollierter.
Wut ist also oft nur der Schutzmantel für tieferliegende Angst.
Wenn du das erkennst, kannst du raus aus dem Überlebensmodus – und rein ins echte Handeln.

Seit mir das klar geworden ist, frage ich mich in solchen Momenten:
Wovor hab ich gerade Angst?
Und – zack – plötzlich ist die Wut weg.

Der Kampf im Kopf

Anfangs war das gar nicht so einfach. Klar, ich bin grundsätzlich eher entspannt, aber es gibt Themen, da ging bei mir sofort die Hutschnur hoch.
Ich wusste zwar, dass die Wut irgendwo Sinn machte – aber sie brachte mich nicht weiter.
Und trotzdem war da ein Teil von mir, der sich fast an ihr festgehalten hat.

Fast so, als wäre die Wut ein Antrieb.
Und dann wurde mir klar: Da kämpfen zwei Seiten in mir. Die eine – meine etwas „erwachtere“ Seite – weiß, dass wahre Stärke darin liegt, loszulassen. Die will wachsen, losziehen, die Welt erleben, statt sich im Kopfkino zu verlieren.

Die andere Seite? Ein kleiner, wütender Höhlenmensch. Immer auf Habacht, denkt ständig, gleich springt ihm was an die Kehle. Der alles aufbläst, was hinter der nächsten Ecke lauern könnte. Weil er Schiss hat, dass genau das passiert.

Aber hier kommt der Moment, in dem’s bei mir klick gemacht hat:
Die beiden müssen gar nicht gegeneinander kämpfen.
Dieser kleine Höhlenmensch hat schlicht Angst.
Also hat die entspannte Seite sich zu ihm gesetzt und gesagt:
Hey, es wird schon.
Und mit der Zeit sind sie Freunde geworden.
Gemeinsam losgezogen, die Welt entdecken – was der kleine Kerl eigentlich schon immer wollte. Nur hatte er vorher zu viel Schiss, es zu wagen.

Die Erkenntnis

Manchmal musst du echt einen Knall haben, um diese ganzen inneren Dramen überhaupt zu durchbrechen.
Und sorry – aber sich an irrationaler Angst festzuklammern, ist der eigentliche Wahnsinn.

Seitdem sehe ich wütende Menschen anders. Ich sehe die Angst dahinter.
Und dann bin ich wie mein kleiner innerer Reisender und sag (mal laut, mal still):
Du wirst deinen Job nicht verlieren. Deine Medikamente werden helfen. Der nächste Schub wird nicht automatisch der Untergang.

Viele denken dann wahrscheinlich:
Die hat doch einen an der Waffel.
Kann sein. Aber das ist mir egal.
Weil ich weiß: Wenn dir was wirklich wichtig ist – dann kämpf verdammt nochmal dafür. Jeden Tag neu. Auch mit Angst im Gepäck.

Ein Feigling stirbt tausend Tode

Wenn’s dir nicht wirklich wichtig ist – dann lass es. Spar dir den Film im Kopf.

Und genau da kommt Jens’ Satz ins Spiel:
„Ein Feigling stirbt tausend Tode, ein mutiger Mensch nur einen.“

Ich habe seinen Satz gehört, aber eine ganze Weile nicht richtig verstanden. Jetzt schon:
Der Feigling kackt sich ständig ein vor allem, was passieren könnte.
Und stirbt jedes Mal ein kleines bisschen. Wieder und wieder, nur im Kopf.


Weitere Themen:

Der Mutige weiß, dass es keine Garantie gibt. Dass wir eh irgendwann sterben. Aber er entscheidet sich trotzdem für’s Leben – trotz Risiko, trotz Ungewissheit. Und stirbt nur einmal. Nicht tausend Mal vorher.

Und das Krasse ist:
Jens weiß, wovon er spricht. Als ehemaliger Einsatzveteran hat er Situationen erlebt, wo Mut nicht Theorie war, sondern über Leben und Tod entschieden hat.
Wenn der so einen Satz sagt – dann hat das Gewicht.

Unterm Strich?
Wir haben die Wahl.
Wollen wir uns von der Angst beherrschen lassen – oder leben, verdammt nochmal?

Mit MS, mit all dem Mist, der dazugehört.
Aber eben auch mit echtem Leben.
Mit Chaos, mit Glück, mit diesem klaren Moment, wenn du weißt:
Ich hab’s gewählt.

Jens hatte recht.
Mal wieder.

Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, diesen Beitrag zu lesen! Ich hoffe, dass meine Erfahrungen dir ein Stück Klarheit oder Ermutigung schenken konnten. Als ich die Diagnose MS bekam, fühlte ich mich oft allein und überfordert. Genau deshalb habe ich ein Buch geschrieben, das ich selbst damals so dringend gebraucht hätte. „Spring, damit du fliegen kannst.: Ein Selbsthilfe-Ratgeber für MS-Erkrankte und ihre Angehörigen.“ Es ist bei Minerva-Vision erschienen. Wenn du Interesse hast, schau es dir gerne an – vielleicht ist es genau das, was auch dir weiterhelfen kann. Oder hör dir meinen Podcast „MS-Voices“ an. Bis zum nächsten Mal!

Du hast auch MS und möchtest mit mir in meinem Podcast darüber sprechen? Dann schreib mir eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.


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