Spirit

Die Angst vor dem Nein überwinden

Julia, 42, sagt oft Ja. Zu allem. Ja zum Kuchenbacken für das Schulfest. Ja zum Einspringen für die Kollegin, obwohl sie selbst kaum Luft hat. Ja zur Einladung am Wochenende, obwohl sie sich nichts sehnlicher wünscht als einen Abend allein mit ihrem Buch. „Ich kann einfach nicht Nein sagen“, sagt sie in der Sitzung. „Ich will niemanden enttäuschen. Ich will nicht als unzuverlässig gelten. Ich will gemocht werden.“ Julia lächelt, während sie das sagt. Aber ihre Schultern sind hochgezogen. Ihre Stimme ist leise. Und dann kommt der Satz, der hängen bleibt: „Ich sage Ja – und fühle mich jedes Mal ein bisschen kleiner.“ Das Wort „Nein“ war für viele Spiegelkinder ein gefährliches Wort. „Nein“ bedeutete nämlich früher: Konflikt, Liebesentzug, Schuldgefühle, Strafe oder Isolation. Deshalb sagen viele lieber Ja – obwohl sie Nein meinen. Damit hören wir am besten heute auf.

Die Kraft, Nein zu sagen: Eine kleine Übung mit großer Wirkung

Für viele Frauen, die es gewohnt sind, zu funktionieren, zu gefallen, sich zurückzunehmen, ist ein Nein nicht einfach. Es ist ein innerer Kraftakt. Vielleicht, weil sie es nie üben durften. Vielleicht, weil sie nie gespürt haben, wie stark es sich anfühlen kann, sich selbst zu schützen.

In einer Klinikgruppe habe ich eine einfache, aber machtvolle Übung kennengelernt.
Sie bleibt mir bis heute im Körper.


So geht’s: Die Nein-Übung im Stuhlkreis

Alle sitzen im Kreis. In der Mitte liegt ein kleiner Ball – leicht, weich, ungefährlich. Er wird von Person zu Person geworfen. Wer ihn fängt, schaut kurz in die Runde – und wirft ihn weiter.

Aber: Du musst den Ball nicht fangen. Wenn du nicht möchtest, verschränkst du einfach die Arme vor deinem Körper. Still. Klar. Und der Ball wird weitergeworfen – zu jemand anderem. Und wenn er doch zu dir geworfen wird, fällt er ins Nichts. Du nimmst ihn nicht. Das ist alles. Und gleichzeitig… alles.


Was dabei passiert

Am Anfang ist es schwer. Sehr schwer. Die meisten fangen den Ball automatisch. Weil sie sich nicht unhöflich fühlen wollen. Weil sie niemanden enttäuschen möchten. Weil sie es nicht gewohnt sind, eine Grenze zu setzen – ohne sich zu erklären. Und weil man das eben so macht. Aber wer es einmal ausprobiert hat, wer den Ball nicht annimmt, wer die Arme vor den Körper verschränkt und stehen lässt, obwohl der Ball unterwegs ist – der fühlt sich erst unwohl. Und danach? Wächst die Erkenntnis für die eigene Macht. Er spürt: „Ich darf Nein sagen – und das fühlt sich super an!“ Die Übung holt das Nein aus dem Kopf in den Körper. Und lässt dich spüren, wie mächtig es sich anfühlen kann, sich nicht zu rechtfertigen, sondern einfach für sich zu entscheiden.

Und vielleicht fragst du dich danach: Wem werfe ich im Leben ständig den Ball zurück, obwohl ich ihn gar nicht fangen will?


Weitere Themen:

Ich habe sie mit Julia gemacht. Erst fing sie den Ball und sammelte ut. Dann verschränkte sie die Arme und ich warf den Ball ins Leere. Etwas wurde anders. „Ich hab zum ersten Mal gespürt, dass ich Nein sagen darf, ohne dass jemand wütend wird“, sagte sie später. Seitdem macht Julia diese Geste immer wieder.Manchmal nur innerlich. Wenn jemand etwas von ihr will. Wenn sie sich unter Druck fühlt. Sie stellt sich vor, wie der Ball auf sie zufliegt – und sie verschränkt die Arme. Und plötzlich ist da kein Trotz. Keine Schuld. Sondern eine ruhige Stimme in ihr, die sagt: „Nicht meins. Nicht jetzt.“


Du kannst die Übung auch für dich allein machen.

Stell dir vor, jemand reicht dir eine Bitte. Eine Erwartung. Eine Meinung. Und du verschränkst – nur innerlich – die Arme. Du sagst: „Nicht meins. Nicht jetzt.“ Du brauchst keine Erklärung. Nur deine Klarheit. Und das Gefühl: „Ich bin da. Und ich darf entscheiden.“


Wenn dir Worte fehlen: Was du sagen kannst, statt einfach nur Nein

Für Situationen, in denen du dich überrumpelt fühlst:

  • „Ich möchte da kurz drüber nachdenken.“
  • „Ich gebe dir morgen Bescheid, okay?“
  • „Gerade ist das zu viel für mich – vielleicht ein andermal.“

Wenn du höflich ablehnen, aber offen bleiben willst:

  • „Ich schaffe das im Moment nicht – aber danke fürs Fragen.“
  • „Ich weiß deine Anfrage wirklich zu schätzen, aber ich muss diesmal passen.“
  • „Das klingt schön, aber es ist gerade nicht das Richtige für mich.“
  • /„Ich glaube, das ist im Moment nicht mein Weg.“

Wenn du spürst, dass du dich erklären möchtest – aber nicht musst:

  • „Das fühlt sich für mich nicht stimmig an.“
  • „Ich brauche gerade Raum für mich – danke fürs Verständnis.“

Für berufliche oder organisatorische Kontexte:

  • „Das passt leider nicht in meinen Kalender.“
  • „Ich kann es terminlich nicht einrichten.“
  • „Ich bin gerade voll eingebunden – ich hoffe auf dein Verständnis.“
  • „Für dieses Projekt fehlt mir momentan die Kapazität.“

Kleine Erinnerung: Du darfst dich abgrenzen – ohne dich zu erklären.

Zum Weiterlesen: “Aschenkind” von Livia Brand. Viele Kinder narzisstischer Mütter wachsen äußerlich „gut“ auf. Sie sind gepflegt. Werden pünktlich zur Schule gebracht. Haben eine Brotdose mit geschnittenem Obst. Was fehlt, ist nicht das Sichtbare – es fehlt das Gesehenwerden. Betroffene wissen im Inneren, dass etwas nicht stimmt, haben aber keine Worte dafür. Ein Selbsthilfe-Ratgeber für alle, die glauben, nicht richtig zu sein. Es kann sein, dass die Ursache gar nicht in dir liegt.

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