Bundesjugendspiele
– mit Hund.
So gesehen … | Die Kolumne von Anna Maria Ram.
Jeder musste da durch, ob er wollte oder nicht! Was haben wir nicht alle uns die Nacht zuvor in Albträumen gewunden und sogar versucht des Nächtens unsere Turnschuhe heimlich zu verbrennen, nur um nicht daran teilnehmen zu müssen.
Und dennoch kehren sie wieder- jedes Jahr, regelmäßig, wie die immer früher in den Regalen des Supermarktes erscheinenden Lebkuchentaler, stetig an unsere körperlichen Unzulänglichkeiten erinnernd, wie das katatonisch grinsende Supermodel auf dem Hochglanzmagazin-Cover an der Kasse, an der wir anstehen und verstohlen im September nach den Lebkuchentalern greifen.
Worum es geht?
Trommelwirbel: BUNDESJUGENDSPIELE!
„Frau Ram, wieso kann ich nicht mit meinen Sandaletten Staffel laufen, Herr Müller-Trizeps hat mich eben vom Platz geschickt, der alte….!“
„STOPP!“, rette ich meine Schülerin im letzten Moment vor einer Klassenkonferenz und fuchtele rekordverdächtig schnell mit den Wettkampfkarten vor ihrem Gesicht herum, dass ich ihre sich bereits abschälenden Fake-Wimpern fast berühre.
„Wir versammeln uns jetzt alle erst einmal in der Klasse, Lana, dann klären wir das!“, erkläre ich professionell und greife nach der Leine unserer Boxerhündin Inka, die stoisch die bunt lackierten Zehennägel der eben angesprochenen Schülerin in deren pinken Sandaletten mit ihrem Hundeblick seziert.
Unerwartet reihen sich meine Neuntklässler zu einer Club-Med-Senioren-am-Buffet-Reihe auf und marschieren in Polonaise-Manier hinter mir und Inka her, zum Klassenraum. Im Vorbeigehen passieren wir eine Zweierreihe Grundschüler mit ihrer Lehrerin, die sichtlich bemüht ist, eine ähnliche Ordnung wie die unsere herzustellen.
„Ahmed, bitte stell dich neben die Feline, ihr sollt doch in einer Reihe gehen!“, bittet sie den jungen Nachwuchs zuckersüß, mit einem leicht gereizten Unterton, während Inka die Nutellabrot- verschmierten Hände der übrigen Erstklässler im Vorbeigehen auf dem gestromten Rücken abgestreift bekommt.
„Eywa, Frau Rambo, ich würde Inka gleich mal in die Waschstraße schicken, wer weiß, ob das wirklich Nutella war!“, raunt mir Mili, mein Neuntklässler passend zu meinem rapide sinkenden Appetit zu.
„Wenn wir auf den Sportplatzt gehen, boxen wir uns da auch?“
„Zählt Bottle-Flip beim Weitwurf?“
„Frau Rambo, können wir auch so Jungs gegen Mädchen machen?“
„Wieso spielen wir nicht einfach Fußball!“
„Hat jemand meinen Lippgloss gesehen?
„Hast DU mal DEINE Lippen gesehen??“
„Mach nich so, Talahon, wallah ich komm rüber!“
„LEUTEEEEEE!“, brülle ich aus den Untiefen meines Lehrerbrustkorbes und löse mit Sicherheit eine Unwetterwarnung achten Grades bei Deutschen Wetterdienst damit aus.
„Setzen! Jetzt!“, boller ich schnell hinterher, bevor die unweigerlich durch TikTok-Videos auf Millisekunden verkürzte Aufmerksamkeitsspanne ungenutzt abflaut. Und wie immer ist Inka, die Schulhündin, die Einzige, die sich vorbildlich hinsetzt und aufmerksam den Kopf hebt. Blitzschnell hechte ich zur Tür und betätige stürmisch den Lichtschalter, um das Pausenblinken zu simulieren. Weil wir ein geräuschloses Signalleuchten in der Schule haben, erstarren die Schüler wie Erdmännchen, die eine Futterquelle wittern und halten urplötzlich in ihren Auseinandersetzungen inne. Wesley hört für einige Sekunden sogar zu atmen auf, gespannt wartet man auf die anschwellenden Außengeräusche, die den Anbruch des illegalen Hof-Verlassens zur Pause ankündigen.
Geübt nutze ich diese den Pubertieren biologisch inne wohnende Schockstarre und lasse die Wettkampfkarten für die Bundesjugendspiele verteilen, erläutere deren Inhalt und die nun folgenden Regeln.
„Frau Rambo, zählt es, wenn ich beim 100-Meter-Lauf auf Inka reite?“, freu sich Wesley und holt wieder tief Luft.
„Inka darf leider nicht mit auf den Sportplatz. Aber sie kann vom Rand aus zuschauen“, erkläre ich etwas traurig.
„Dann schmuggeln wir sie einfach rein, das fällt nicht auf, zwischen all den Hundesö…!“
„MILI! Es reicht!“, brülle ich rechtzeitig und gemeinsam brechen wir zum hiesigen Sportplatz hinter der Schule auf, wo bereits der engagierte Kollege Trizeps in einem Liegestuhl mit Sonnenbrille und einem Megafon auf uns wartet.
„SO IHR LIEBEN!“, trompetet der Kollege bei unserer Ankunft und meine Mädels kreischen aufgrund der Trommelfell- zerschießenden Lautstärke wie Furien der griechischen Mythologie, woraufhin die Jungs brüllend Lachen und ich erschrocken Inkas Leine fallen lasse.
„ALLE MAL NACH ALTER UND GESCHLECHT AUFSTELLEN!“, krächzt Trizeps unbeeindruckt von meinem gröhlend- plärrenden Haufen, während sich Inka unbemerkt zwischen den pinken Sandaletten und haarigen Waden der Jugendlichen durchmogelt und auf den Ballcontainer des Weitwurfbereichs zusteuert.
„Er hat Geschlecht gesagt!“, bemerkt Wesley grinsend und lässt dabei seine Augenbrauen akrobatische Wellen schlagen, so dass ich kurz anerkennend nicken muss, bevor ich Trizeps bitte allein anzufangen, damit ich die abgängige Balldiebin Inka auf der anderen Seite des Platzes einfangen kann.
Während ich leise vor mich hin fluchend in meinen weißen Turnschuhen über den rot gefärbten Sandplatz stampfe, und versuche das Bild einer mehrarmigen Gottheit mit Nutellahänden aus meinem Hinterkopf zu verdrängen, bietet sich mir eine äußerst interessante Szenerie:
Noch im Begriff den Ablauf der Stationen ordnungsgemäß und mit Zahnweißkaugummi in Dauerschleife kauend zu erläutern, beobachte ich aus den Augenwinkeln, wie Kollege Trizeps nun endlich das Megafon von den Lippen nimmt und es dem nächststehenden Schüler in die Hand drückt.
Böser Fehler!
Bevor auch nur ein einziger meiner Kinder irgendwelche Leistungen, die annähernd an Leibesübungen erinnern könnten erbringt, schnappt sich Wesley das Megafon und klettert in Windeseile auf den Schiedsrichterstuhl, um die restlichen Mitschüler nachdrücklich und in reinster Jugendsprache zum „Massen-Chillen“ aufzurufen.
Die Mädels lassen sich augenblicklich auf den Boden sinken, wobei ich zunächst befürchte, dass es sich um eine kollektive Ohnmacht handelt, während einige der Jungs darin übergehen ihre Schuhe komplett auszuziehen uns sich gegenseitig den roten Sand des Platzes auf die mitnichten gefälschten Adidas-Hosen zu kicken. Teilweise kann ich erkennen, wie der Rest der Klasse mit gezückten Handys, Deutschrap abspielend in Kleingruppen über die Rennbahn zu flanieren beginnt, wobei Refrains wie „Es tut mir so leid, Görl, ich tu alles für diiiisch!“, nachhaltig laut betont mitgeschmettert werden. Den vorherig beschriebenen Schockzustand eines Futter witternden Erdmännchens gleich, erstarre ich, als sich die Karawane Nutella-Hände der Erstklässler unaufhaltsam vom Zaun her auf uns zubewegt und „Aramsamsam“ singend, hoch motiviert den von meiner kickenden Jungsgruppe aufgewirbelten Sand um sich zu schmeißen beginnt. Soll ja jeder mitmachen, heißt es!
Kollege Trizeps grabbelt hektisch und erfolglos in seiner ausnahmsweise nicht gefälschten Lehrerladen-Bauchtasche nach seiner Trillerpfeife und beschließt letztendlich auf den Fingern zu pfeifen, was ihm, aufgrund des auf den Lippen massenhaft aufgetragenen Sonnenschutzes misslingt und ihm nur ein feuchtes Knottern entfährt.
Die bunte Parade der 100-Meter-Karaoke-Flanierenden hat sich in der Zwischenzeit über die Hälfte des Platzes gekämpft und die abtrünnige Boxerhündin, welche hoch konzentriert den Ballcontainer bewacht und umrundet hatte, eingefangen.
Einer türkischen Hochzeitsprozession gleichend reihen sich schließlich die übrigen Neuntklässler ein und bilden eine undurchdringliche Menschenmauer, die den beeindruckten trällernden Erstklässlern den Weg versperrt und damit soweit an Geschwindigkeit verliert, dass ich mit meinen rot gepuderten Turnschuhen die Parade des Grauens und den heiser prustenden Kollegen Trizeps einholen und dieses Gefecht zum Erliegen bringen kann, bevor es weiter eskaliert.
Ohne Blicke nicken wir Kollegen uns zu, ich nehme Mili die Leine von Inka wortlos aus der Hand und Kollege Trizeps beginnt damit meiner gesamten Klasse vorsätzlich Siegerurkunden auszustellen, bevor mein Kurs in einem zweiten Versuch die einzelnen Stationen nochmals unsicher machen kann.
„Wie lit war DAS denn bitte?“, freut sich Lana in ihren pinken Sandaletten.
„Ja, Mann, aber Herr Trizeps gönnt einfach gaaaaar nich!“
„Richtig cringe, Trizeps!“
„Frau Rambo, können wir jetzt Döner essen gehen?“
Irgendwie hat sich in der Zwischenzeit dieses katatonische Grinsen vom Hochglanz-Modell in mein Gesicht geschlichen.
Und irgendwie denke ich, werde ich gleich, wenn das erlösend-leise Signal die Hofpause ankündigt, einfach mal einen Lebkuchentaler essen – oder drei. Oder hundert. Einfach so, mitten im September!
Macht es gut, beziehungsweise besser, bewegt euch, Sport ist gesund und macht glücklich – zumindest einige von uns.
Anna Maria Ram arbeitet als Pädagogin im hessischen Schuldienst. Dabei begleiten sie phasenweise ihre Deutschen Boxer, alle aus dem Tierschutz, in Klassen mit besonderen Ansprüchen und Lernschwierigkeiten. Anna Maria ist ebenfalls Buchautorin. Ihr Buch „Die anderen sind eh schlauer als uns!“ erscheint im Minerva Verlag. Für das Magazin „HundeWelt“ schreibt sie regelmäßig ihre eigene Kolumne. Hier auf Minerva VISION liegt ihr Schwerpunkt auf den Skurilitäten des Alltags.