
Angststörung: Helfen Antidepressiva wirklich?
Wissenschaftler zeigen, dass bestimmte Antidepressiva bei Angststörungen wirksam sein können – aber nicht für alle. Und nicht ohne Nebenwirkungen. Was du wissen solltest, wenn die Angst zu viel wird.
Angst gehört zum Leben – sie kann uns schützen, aufmerksam machen, uns helfen, Grenzen zu setzen. Doch manchmal wächst sie über uns hinaus. Wenn Sorgen nicht mehr aufhören, der Brustkorb sich zuschnürt oder das Gedankenkarussell nicht stillsteht, sprechen Fachleute von einer Angststörung.
In Deutschland betrifft das Millionen Menschen – und oft stellt sich die Frage: Hilft ein Medikament?
Eine neue Übersichtsarbeit der Cochrane Collaboration, einem der unabhängigsten Forschungsteams weltweit, liefert nun fundierte Antworten: Bestimmte Antidepressiva können helfen. Aber sie sind nicht für jeden die erste Wahl.
Was wurde untersucht?
Das Cochrane-Team wertete 57 Studien mit über 15.000 Erwachsenen aus, die an einer generalisierten Angststörung (GAD) litten – einer Form der Angst, bei der Betroffene über Monate hinweg dauerhaft unter Anspannung, Sorgen und innerer Unruhe leiden.
Das Ergebnis: Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRIs) können die Symptome spürbar lindern – im Vergleich zu einem Placebo war die Wirksamkeit signifikant höher. Besonders wirksam schnitten die Wirkstoffe Duloxetin, Escitalopram und Paroxetin ab.
Was bedeutet das in der Praxis?
Antidepressiva wirken nicht sofort. Meist dauert es einige Wochen, bis eine Besserung spürbar wird. Und: Nicht jeder reagiert gleich. Während einige Betroffene durch die Medikamente mehr innere Ruhe, besseren Schlaf und weniger Grübeln erleben, berichten andere von Nebenwirkungen wie Übelkeit, Müdigkeit oder sexuellen Störungen. Die Cochrane-Forschenden betonen: Es gibt keine „Wunderpille“ – aber es gibt Medikamente, die bei richtiger Anwendung Teil einer erfolgreichen Behandlung sein können.
Wichtig zu wissen: Medikamente sind kein Ersatz für Begleitung
Antidepressiva können helfen, den Nebel zu lichten – aber sie lösen keine Lebenskonflikte. Eine gute Behandlung umfasst deshalb immer auch Gespräche: mit Psychotherapeutinnen, mit Ärztinnen, mit Menschen, die verstehen. Wer nur auf Tabletten setzt, bleibt oft enttäuscht zurück. Wer dagegen bereit ist, sich selbst zuzuwenden – mit Unterstützung –, kann lernen, die Angst nicht als Feind, sondern als Signal zu sehen: Da ist etwas in mir, das gehört werden will.
Wenn die Angst zu groß wird, ist Hilfe kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke
Antidepressiva können ein stabilisierender Anker sein, wenn alles zu viel wird. Sie sind keine Schuld, kein Makel, keine Abkürzung. Sondern eine mögliche Hilfe – eingebettet in ein größeres Bild: Aus Selbstfürsorge, Reflexion und manchmal auch: Geduld.
Denn Heilung ist kein schneller Weg. Aber einer, den du gehen darfst. In deinem Tempo. Und mit allem, was du bist.
Kommentar von Nina, unserem Mental-Health-Coach: Weder Wundermittel noch Teufelszeug
Als Mental-Health-Coach begrüße ich die neue Cochrane-Analyse ausdrücklich – nicht, weil sie etwas völlig Neues sagt, sondern weil sie etwas längst Bekanntes auf den Punkt bringt: Antidepressiva wirken bei Angststörungen – aber nicht bei jedem gleich, und nicht ohne Abwägung.
Die Diskussion um Psychopharmaka ist oft emotional aufgeladen. Auf der einen Seite stehen Hoffnungen auf schnelle Besserung, auf der anderen die Angst vor Abhängigkeit oder „Veränderung der Persönlichkeit“. Beides ist verständlich – aber nicht immer sachlich.
Die gute Nachricht: Die Studie bestätigt, was wir aus der Praxis kennen. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) und SNRIs können bei generalisierter Angststörung wirksam sein – sie verringern innere Unruhe, sorgen für mehr emotionale Stabilität und reduzieren das ständige Katastrophendenken. Für viele Patientinnen und Patienten bedeutet das: ein Stück Alltag zurückgewinnen.
Die nüchterne Ergänzung: Die Wirkung ist moderat. Sie hilft oft – aber selten allein. Und sie kommt nicht ohne Nebenwirkungen. Manche Patient*innen steigen frühzeitig wieder aus der Behandlung aus – nicht weil das Medikament nicht wirkt, sondern weil das „Dazwischen“ zu belastend ist: Einschleichsymptome, emotionale Dämpfung oder sexuelle Funktionsstörungen.
Was bedeutet das für die Behandlung?
Entscheidend ist: Das Medikament muss zum Menschen passen. Es ist eine Einladung zur Stabilisierung – kein Ersatz für Therapie, Beziehung, Lebensklärung. Und genau hier liegt die eigentliche Herausforderung: Viele Angststörungen wurzeln in tieferliegenden psychodynamischen Konflikten – ungelösten Beziehungsmustern, biografischen Verletzungen, alten Schutzmechanismen. Wer nur die Symptome behandelt, lässt den Kern unberührt.
Antidepressiva sind ein Teil des Ganzen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wer sie ablehnt, aus Angst vor „Chemie“, riskiert, sich selbst wirksame Hilfe zu versagen. Wer sie glorifiziert, läuft Gefahr, andere Aspekte zu übersehen, die ebenso wichtig sind: Therapeutische Begleitung, Lebensstruktur, soziale Unterstützung, Selbsterkenntnis.
Es geht nicht um Entweder-oder. Sondern um kluge Kombinationen. Und vor allem: um Respekt vor der Individualität jedes Menschen, der sich entscheidet, Hilfe anzunehmen.