
Abstillen: Wann ist der richtige Zeitpunkt?
Jede Stillgeschichte ist einzigartig
Für manche Mütter ist das Stillen eine der innigsten Erfahrungen überhaupt — ein ganz besonderes Band zwischen Mutter und Kind. Für andere bedeutet es eine Phase voller Herausforderungen, manchmal auch Schmerzen oder Unsicherheiten. Irgendwann kommt bei vielen die Frage: Wann ist eigentlich der richtige Moment, um abzustillen? Die kurze Antwort: Es gibt keinen festgelegten „richtigen“ Zeitpunkt. Stillen ist keine Einbahnstraße mit Start- und Enddatum, sondern ein gemeinsamer Weg, den Mutter und Kind miteinander gehen.
Was sagen Fachleute?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, Babys in den ersten sechs Monaten ausschließlich zu stillen. Danach soll das Stillen mit Beikost weitergeführt werden, „so lange, wie Mutter und Kind es möchten“, gerne bis ins zweite Lebensjahr und darüber hinaus.
Längeres Stillen bringt viele Vorteile:
- Stärkung des Immunsystems
- Schutz vor Infektionen und Allergien
- Unterstützung der Mutter-Kind-Bindung
- Langfristiger Schutz für die Mutter (z. B. geringeres Brust- und Eierstockkrebsrisiko)
Doch auch hier gilt: Das sind Empfehlungen, keine starren Regeln. Jede Familie darf ihren eigenen Weg finden.
Aus wissenschaftlicher Sicht: Keine direkten Belege für sexuelle Fehlprägung
Und hier beantworten wir die Frage, die viele sich nicht zu fragen trauen: es gibt keine wissenschaftlichen Belege, dass langes Stillen (über das zweite oder dritte Lebensjahr hinaus) zu einer „sexuellen Fehlprägung“ oder späteren sexuellen Problemen führt. In sehr vielen Kulturen (z. B. bei den Inuit, den Efe in Zentralafrika oder in Teilen Asiens) ist Stillen bis ins dritte oder vierte Lebensjahr hinein normal und gesellschaftlich akzeptiert. Kinder, die dort lange gestillt werden, entwickeln in der Regel eine gesunde sexuelle Identität, denn die Brust wird dort nicht sexualisiert, sondern als nährende, schützende Quelle gesehen. In westlichen Gesellschaften ist das anders. Hier ist die weibliche Brust sehr stark sexualisiert. Das führt dazu, dass viele Menschen das Stillen älterer Kinder als „unangemessen“ oder „komisch“ empfinden. Diese kulturelle Wahrnehmung kann tatsächlich das Kind beeinflussen, aber nicht durch das Stillen selbst, sondern durch die Reaktionen und die Schamgefühle, die es möglicherweise miterlebt.
Wenn die Mutter sich unwohl oder peinlich berührt fühlt, kann das dem Kind signalisieren: „Irgendetwas an meinem Bedürfnis ist falsch.“ Eine sogenannte sexuelle Prägung im negativen Sinn entsteht nur dann, wenn ein Kind die Botschaft bekommt, dass Körperkontakt mit der Mutter „irgendwie falsch oder anstößig“ ist. Das ist beim Stillen an sich nicht der Fall.
Wenn Stillen zur einzigen Nähe wird
Manchmal erzählen Mütter, dass ihr Kind, auch mit zwei oder drei Jahren, kaum noch „normal“ kuscheln möchte, sondern fast ausschließlich an die Brust will. Das kann ein Zeichen sein, dass die Brust zur einzigen Quelle für Nähe und Beruhigung geworden ist. Vielleicht war sie lange ein sicherer Hafen, vielleicht fehlten andere Rituale.
Hier lohnt sich dann in der Tat die Nachfrage, ob es andere Wege gibt, dem Kind Geborgenheit zu geben. Wie geht es mir als Mutter selbst mit dem häufigen Stillen? Viele Mütter spüren irgendwann, dass der richtige Zeitpunkt zum Abstillen kommt. Viele Mütter stellen ihre eigenen Bedürfnisse ganz selbstverständlich hinten an. Sie wollen das Beste für ihr Kind und das ist zutiefst berührend. Aber das vermeintlich „Beste“ ist nicht immer deckungsgleich mit mehr Stillen oder länger Stillen. Manchmal bedeutet das Beste auch, dass die Mutter auf ihre inneren Signale hört und ihre eigenen Grenzen ernst nimmt.
Wie merke ich, dass ich mich selbst übergehe?
Vielleicht spürst du:
- Widerwillen oder Unlust, wenn dein Kind an die Brust möchte.
- Erschöpfung, die über normale Müdigkeit hinausgeht.
- Das Gefühl, „immer verfügbar“ sein zu müssen, ohne jemals Raum für dich selbst zu haben.
- Gedanken wie: „Ich mache das nur noch, weil ich muss.“ oder „Ich kann doch jetzt nicht aufhören, das wäre egoistisch.“
Diese Gedanken sind keine Anzeichen von Lieblosigkeit. Sie sind wichtige Botschaften deiner eigenen Seele. Viele Mütter glauben, dass Aufopferung die höchste Form der Liebe ist. Dabei zeigen wir unseren Kindern vor allem eines: Wie wir mit uns selbst umgehen. Kinder lernen weniger aus unseren Worten als aus unserem Vorleben. Wenn du deine Bedürfnisse ernst nimmst, lernt dein Kind: „Mama ist wichtig. Ich bin wichtig. Beide dürfen da sein.“
Ein starkes Kind braucht eine starke Mutter
Stillen ist ein wunderbarer Ausdruck von Nähe und Liebe — aber nicht der einzige. Ein Kind kann auch durch andere Rituale erleben, dass es sicher und geborgen ist: Kuscheln beim Vorlesen, Streicheln und Halten beim Einschlafen, gemeinsames Singen, Massagen, ruhige Gespräche. Wenn die Mutter innerlich immer weniger präsent ist, weil sie sich überfordert fühlt, spürt das auch das Kind. Dann kann das Stillen sogar eher eine Verunsicherung statt eine echte Nähequelle werden.
Vertrauen statt Schuldgefühle
Es braucht Mut, auf die eigene innere Stimme zu hören. gerade in einer Welt voller Meinungen, Ratgeber und „Experten“. Vielleicht ist der Gedanke an das Abstillen mit Traurigkeit verbunden. Vielleicht gibt es Angst vor Konflikten mit dem Kind oder davor, es emotional „zu verletzen“. Aber: Liebevoll und sanft Grenzen zu setzen bedeutet nicht, das Kind zu verletzen. Es bedeutet, ehrlich zu sein und dem Kind zu helfen, neue Formen von Nähe zu finden. Wichtig ist: Niemand sollte sich für die Dauer der Stillzeit rechtfertigen müssen, egal ob kurz oder lang. Jedes Mutter-Kind-Team ist einzigartig.
Loslassen und verbunden bleiben
Wenn du spürst, dass der Zeitpunkt gekommen ist, darfst du darauf vertrauen. Dein Kind braucht dich nicht in Dauerverfügbarkeit, sondern in echter Verbindung mit dir selbst und mit ihm. Abstillen bedeutet nicht, die Nähe aufzugeben. Im Gegenteil: Es kann eine Einladung sein, neue Arten des Miteinanders zu entdecken. Vielleicht ist der richtige Zeitpunkt heute. Vielleicht erst in einigen Monaten. Oder auch erst dann, wenn beide von Herzen bereit sind.
Liebe kennt viele Wege — Stillen ist nur einer davon.
Der Kommentar von Nina, unserem Mental-Health-Coach: Die wichtigste Frage: Für wen ist es richtig?
Wenn Eltern mich fragen: „Wann ist der richtige Zeitpunkt zum Abstillen?“, stelle ich meistens eine Gegenfrage: „Für wen soll es jetzt richtig sein — für das Kind, für die Mutter oder für beide?“
Denn es gibt keine universelle, richtige Antwort. Der richtige Zeitpunkt ist immer individuell und entsteht in der Beziehung zwischen Mutter und Kind.
In unserer Kultur ist Stillen oft überladen mit Erwartungen und Meinungen. Manche Mütter stillen „zu lange“, andere „zu kurz“, je nachdem, wen man fragt. Dabei wird häufig vergessen: Stillen ist keine technische Maßnahme, sondern ein intimer, lebendiger Austausch. Ich erlebe oft, dass Mütter sich selbst unter Druck setzen: „Ich muss jetzt abstillen, weil mein Umfeld das erwartet.“ Oder: „Ich darf nicht abstillen, sonst schade ich meinem Kind.“
Beides führt zu Schuldgefühlen und verunsichert. Stattdessen sollten wir fragen:
- Bin ich noch gerne in dieser Stillbeziehung?
- Tut es mir und meinem Kind noch gut?
- Oder spüre ich einen Wunsch nach Veränderung?
Kinder sind sehr feinfühlig. Sie spüren, ob ihre Mutter innerlich stimmig ist oder ob sie ambivalent ist. Abstillen darf ein langsamer Prozess sein, begleitet von Nähe, Trost und Zuwendung, nicht ein abrupter Bruch. Für manche Kinder geschieht Abstillen ganz von selbst: Sie verlieren allmählich das Interesse, entdecken andere Formen der Nähe, des Trosts, der Ernährung. Für andere ist es ein längerer Prozess, manchmal auch mit Protest verbunden. Das ist normal. Wichtig ist, dass Mutter und Kind zusammen in einen Dialog gehen, nonverbal oder mit Worten, je nach Alter des Kindes. Der „richtige“ Zeitpunkt ist kein Datum im Kalender, sondern ein Gefühl im Bauch. Er entsteht, wenn Mutter und Kind beide bereit sind, eine neue Form der Nähe zu entdecken.
Wir sollten aufhören, in Kategorien von „zu früh“ oder „zu spät“ zu denken. Stattdessen dürfen wir uns fragen: „Bin ich noch ganz bei mir? Bin ich in guter Verbindung mit meinem Kind?“
Denn am Ende ist Abstillen kein Abschied von Nähe, sondern nur von einer Form davon.