Gesundheit

Wieder auf die Beine kommen

Die passende Reha kann einen wieder auf die Beine stellen. Warum Google nicht immer die beste Wahl ist und warum es wichtig ist, dass du dich mit dir selbst beschäftigst. Irene Sybertz erzählt in ihrem Buch “Spring, damit du fliegen kannst” ihre persönliche Geschichte mit Multiple Sklerose.

Dieser einzige Moment begann, als Horst mich Anfang Januar von der Klinik abholte und wir nach Hause kamen. Es waren nun ungefähr sechs Wochen seit meiner Diagnose. Leider erkannte ich das nicht sofort, sondern erst im Laufe der folgenden sechs Jahre, denn dann trennte ich mich von Horst, gab alles auf in der Region, in der ich lebte, zog mit meiner Polly zurück in meine Heimat und wurde glücklich.
Als Erstes begrüßte mich Polly. Odin und Romeo, unsere beiden anderen Hunde, bekamen fast keine Chance das auch zu tun, denn Polly belagerte mich regelrecht. Sie war Balsam für meine Seele.


Und dann drang es in mein Bewusstsein: der Zustand des Hauses, genauer gesagt erst mal der Zustand des Erdgeschosses. Ich denke heute rückblickend, dass das der Moment war, an dem ich anfing, mich von Horst zu lösen.
Der Flur war übersät mit Fellbüscheln unserer Hunde, auf dem Küchentisch stapelten sich die Zeitungen der vergangenen vier Wochen, zusammen mit meiner Post. Das Geschirr stand in der Spüle, die Spülmaschine quoll über, ebenso wie die Wäschekörbe mit der Wäsche von Horst. Ich sortierte also alles und startete die erste Maschine Wäsche. Dann brachte ich das Haus wieder in Ordnung. Ich brauchte zwei Tage. Dabei war ich von der AHB, der rund zweistündigen Fahrt, dem vielen Cortison, was ich immer noch in mir hatte, einfach nur kaputt und hätte mich gerne ausgeruht. Knapp zwei Monate später hatte ich den nächsten Schub und war wieder im Krankenhaus für rund eine Woche zur Kortison-Stoßtherapie. Ich hatte noch nicht einmal mit meiner beruflichen Wiedereingliederungsmaßnahme beginnen können.


Du siehst also, wie wichtig auch das häusliche Umfeld für dich ist. Du brauchst Ordnung, Struktur und einen Partner bzw. Partnerin, der bzw. die dich unterstützt. Wenn du, wie ich, auf einem Bauernhof lebst, brauchst du Hilfe bei der Arbeit. Möglicherweise ist es dir auch durch deine neue Einschränkung gar nicht mehr möglich, bestimmte Dinge im Haushalt zu übernehmen. Kümmere dich frühzeitig um Hilfe, die du zumindest anfangs aus Familie und Freundeskreis erhalten kannst. Nimm diese Hilfe an, denn der Alltag mit MS ist manchmal schwer. Du kannst jetzt denken, dass es dir gut geht und du am liebsten in einem Rutsch das Haus oder die Wohnung putzen möchtest und du dich gut genug fühlst, das auch durchzuziehen. Aber im nächsten Moment kann dir eine heftige Spastik den ganzen Plan zunichtemachen, weil du die nächsten Stunden oder auch den ganzen Tag außer Gefecht gesetzt bist. Oder die Fatigue schlägt mit voller Wucht zu. Dann fühlst du dich so erschöpft, als hättest du 48 Stunden am Stück gearbeitet und möchtest nur noch schlafen. In beiden Fällen: Nichts geht mehr. Ungefähr einen Monat nach dem zweiten Schub begann ich die berufliche Wiedereingliederungsmaßnahme. Es war sehr schwer, denn ich dachte, ich müsse besser sein und mehr Leistung bringen als meine Kolleginnen und Kollegen, damit niemand denkt, durch die MS wäre ich „unbrauchbar“. Glaube mir. Das funktioniert so nicht. Aber zum Thema Arbeit komme ich an anderer Stelle.

Das Aussortieren des Unwesentlichen ist der Kern aller Lebensweisheit.
(Laotse, Chinesischer Philosoph)


Eine Weile ging es gut und ein Jahr später hatte ich den nächsten schweren Schub. So schwer, dass die ersten fünf Tage Kortison-Stoßtherapie à jeweils 1000 mg Kortison nicht ausreichten. Es wurden noch drei Tage mit jeweils 2000 mg Kortison drangehängt und erneut sollte aus dem Krankenhaus eine AHB beantragt werden. Dieses Mal war ich aber schlauer und recherchierte. Ich sprach mit einer Mitarbeiterin der DMSG Rheinland-Pfalz, erzählte über die Erfahrungen in der ersten Reha-Klinik und sagte, dass ich etwas anderes möchte. Sie empfahl mir zwei gute Klinken im Umkreis und noch eine, die aber rund 300 km entfernt sei. Smartphone sei Dank, konnte ich so innerhalb kurzer Zeit meine eigenen Recherchen zu diesen Kliniken anstellen und teilte der Sozialarbeiterin des Krankenhauses meine Wahl mit. Ich wollte in die neurologische Klinik in Hilchenbach, im Siegerland. Aus dem Krankenhaus heraus wurde alles Notwendige veranlasst.

Praxis-Tipp: Warum man nicht auf Google hören sollte

Ich rate bei Recherchearbeiten immer dazu, nicht auf Google-Bewertungen zu achten. Die können allenfalls ein grobes Bild wiedergeben. Aber gerade in Sachen MS ist es wichtig, dass die Therapien auf dich und deine Bedürfnisse zugeschnitten sind. Und da eine AHB/Reha von vorneherein mindestens drei Wochen dauert (bei mir waren es meistens fünf Wochen und die letzte mit knapp acht Wochen) solltest du zusätzlich auch darauf achten, ob es zum Beispiel einen Wäsche- oder einen mobilen Fußpflegeservice gibt, ein mobiler Friseur angefordert werden kann und ob ein Freizeitprogramm angeboten wird. Das kann wichtig werden, wenn aus geplanten drei Wochen Aufenthalt plötzlich vier, fünf oder mehr werden.

Ja, es gibt auch ambulante Reha-Möglichkeiten. Aber davon rate ich persönlich ab. Diese AHBs/Rehas sind dafür da, dass du dich ganz um dich selbst, deinen Körper und deine Seele kümmerst. Du kannst dort lernen, Strategien für den Alltag zu entwickeln und das sind mehr, als du dir anfangs vorstellen kannst. Bei einer ambulanten Reha wirst du morgens abgeholt und nach Ende deiner eng getakteten Therapien wirst du wieder nach Hause gefahren. Das häusliche Umfeld mag dir mehr liegen als eine Klinik, in der du dich zurechtfinden musst und wo du niemanden kennst. Du wirst vielleicht deinen Partner vermissen und er vermisst dich auch– zumindest wünsche ich dir das. Aber auch dein Partner braucht Zeit, um sich auf das, was kommt bzw. kommen kann, einzustellen. Und wenn du nachmittags, von den Therapien erschöpft, nach Hause kommst, wirst du wahrscheinlich nicht umhinkommen, dich doch um den Alltag, den Haushalt & Co. zu kümmern. Das ist Gift für den Erfolg deiner Therapie!

Horst fuhr mich also drei Stunden in die Reha Klinik in Hilchenbach. DMSG zertifiziert, Schwerpunkt Multiple Sklerose. Die Leute dort sollten also Ahnung haben. Und die hatten sie definitiv. Mir wurde nahegelegt, an jeder Therapie mindestens zweimal teilzunehmen. Wenn ich dann feststellen würde, dass es mir persönlich nicht hilft, würde man nach einer Alternative für mich suchen.

Warum du alles mitmachen solltest

Fakt ist aber, dass du an Therapien teilnehmen musst! Nicht nur an denen, die dir gefallen, denn es wird alles dokumentiert. Der Bericht geht an die DRV (Deutsche Rentenversicherung) oder deine Krankenkasse. Und wenn die sehen, dass du nur an Entspannungstechniken teilgenommen hast, wird man sich schwertun, dir in Zukunft eine Reha zu gewähren.

Ich persönlich bin zum Beispiel nicht mit der Entspannungstechnik „Autogenes Training“ klargekommen, das zweimal wöchentlich angesetzt war. Je mehr ich aufgefordert wurde, alle Sorgen und Gedanken fliegen zu lassen und gedanklich dem Lauf des Baches im Wald zu folgen, umso mehr habe ich Szenarien in meinem Kopf durchgespielt, wie ich die Dinge im Alltag händeln sollte oder könnte. Und auch die Existenzängste konnte ich nicht einfach fliegen lassen, was durchaus schön gewesen wäre. Und zu der sphärischen „Pling-„Pling“ Musik, die zur Untermalung der schönen gedanklichen Reise abgespielt wurde, wurde ich gedanklich aggressiv. „Highway to Hell“ oder „Hells Bells“ von ACDC wären für mich in diesem Moment passender gewesen.

Neben den üblichen, zwischen den Therapien eingebauten medizinischen Checks wie Blutuntersuchungen (unsere MS-Medikamente sind leider keine harmlosen Hustenbonbons, sondern reine Chemiekeulen), Testung des Blinkreflexes (Augen), die Messung der sensiblen Nervenbahnen, der Hör- und Sehbahn, EEG, bekam ich Therapien. Und die waren reichlich (durchschnittlich sechs pro Tag), teilweise anstrengend, aber in allen Fällen waren sie erfolgreich sowohl für meinen Körper als auch für meine Seele.

Ich war also beschäftigt. Von morgens früh, 08.00 Uhr, bis nachmittags 16.00 oder 16.30 Uhr. Zwischendurch gab es Frühstück, Mittag- und Abendessen im großen Speisesaal. Aber nach Abschluss des Therapietages war ich regelrecht platt.
Die Therapien, die mir am meisten zusetzten, waren die psychologischen Gespräche und die Kunsttherapie, denn da war ich gezwungen, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Ich konnte niemals den Fragen ausweichen. Die beiden Therapeutinnen forderten mich. Und das war auch richtig so. Lustigerweise habe ich meine eigene Kunsttherapie begonnen, noch bevor die erste Stunde auf dem Therapieplan stand. In dieser Klinik gab es eine Freizeitgruppe, in der man sich dreimal pro Woche treffen konnte. Es gab die Möglichkeit zu Basteln, Holzarbeiten zu machen, zu malen oder auch nur sich einfach zu unterhalten, unter Menschen zu sein. Ich entschied mich für das Malen auf Leinwand mit Acryl. Ich habe das vorher noch nie gemacht und auch nie einen Gedanken daran verschwendet. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich das machen muss.
Auf der Suche nach dem Motiv kam mir das Lied in den Kopf, das mich durch meine ganze MS-Zeit getragen hat und immer noch trägt. Das Lied „Muss da durch“ von Udo Lindenberg.

Ein Ratgeber für alle an MS Erkrankten, deren Angehörigen und Freunde, die auf der Suche nach Antworten sind.

Spring, damit du fliegen kannst

Irene Sybertz

180 Seiten

ISBN: 978-3-910503-15-1

Erhältlich unter www.minervastore.de

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