Gesundheit

Wie Dünger für zerstörte Nervenfasern.


Prof. Dietmar Fischer möchte zerstörte Nervenzellen dazu bringen, nach einer Verletzung schnell wieder nachzuwachsen.  Wir wollten wissen, wie.

Johannes war immer ein aktiver und sportlicher Mensch. Auf dem Rückweg von einem Tennisturnier kam der 35jährige Architekt von der Fahrbahn ab. Der Autounfall durchtrennte die Nerven, die die Steuerung des rechten Beines ermöglichten. Trotz intensiver Rehabilitation blieb seine Prognose düster – die Nervenfasern in seinem Rückenmark waren so stark beschädigt, dass eine vollständige Genesung unwahrscheinlich schien. Ein Wirkstoff aus Benediktenkraut könnte  seine Chancen deutlich verbessern.

Kräuter helfen heilen

Das bitter schmeckende Benediktenkraut wird in der Kräuterheilkunde traditionell gegen Verdauungsbeschwerden und zur Appetitanregung angewendet. Die auf den ersten Blick unspektakulär-wirkende Pflanze rückt allerdings durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse in den Fokus des allgemeinen Interesses. Aber wie ist es in der Realität?  Hat sie tatsächlich das Potenzial, die Heilung von Nervenschäden bei Menschen zu fördern?  Wir sprachen mit Prof. Dietmar Fischer, Direktor des Zentrums für Pharmakologie an der Universität Köln. Seine Forschung konzentriert sich unter anderem auf Cnicin, einen Inhaltsstoff des Benediktenkrauts, und dessen Effekte auf das Nervensystem.

Geheimtipp: Benediktenkraut

„Vor einigen Jahren haben wir in gentechnisch veränderten Mäusen entdeckt, dass die genetische Veränderung eines Proteins (GSK3) die Regeneration von Nervenfasern im verletzten Nerv steigert. Nach der Entschlüsselung des zugrundeliegenden, molekularen Mechanismus konnten wir nach Substanzen suchen, die diesen regenerationsfördernden Effekt imitieren. So sind wir zum Cnicin gekommen.  Dann haben wir die Substanz erfolgreich an Mäusen, Ratten und Kaninchen und im Labor in menschlichen Netzhautzellen getestet.   Die tägliche Gabe ließ die Nervenregenration deutlich beschleunigen.  Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass dies auch bei Menschennerven funktioniert.“

Kann der Körper sich selber heilen?

Selbstheilung ist schon eine verblüffende Fähigkeit des Körpers. Und genau darum geht es. Um Nerven-Dünger. Mit dem Wirkstoff wird der Körper in die Lage versetzt, seine durchtrennten Nerven wieder schneller zu heilen. Beim Menschen hat der Körper dazu nur ca. 12 Wochen Zeit.  Danach flaut das Faserwachstum ab. „Deshalb geht es bei der Nervenreparatur entscheidend darum, wie schnell Nervenfasern nachwachsen können bzw. wie viel Strecke sie in dieser Zeit machen können. Unter optimalen Bedingungen schaffen sie hierbei ca. zwei Millimeter, so dass Regenerationsstrecken von nur ca. 18 cm möglich sind. Nun ist die zu überwindende Regenerationsstrecke beim Menschen und bei größeren Tieren in der Regel länger, so dass eine Heilung oft nicht möglich ist. Mit unserem Wirkstoff bringt man die Wachstumskegel von verletzten Nervenfasern bei erwachsenen Tieren in einen Zustand, der denen von neugeborenen Tieren gleicht. Dadurch kann die Regenerationsgeschwindigkeit und Strecke auf fast das doppelte erhöht werden.“ Mit Cnicin könnte daher theoretisch eine Distanz auf 360 mm erreicht werden.


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Das Charmante daran ist, dass es recht unkompliziert verabreicht werden kann.

„Wir konnten feststellen, dass es oral bioverfügbar ist.“ Es muss also nicht gespritzt werden. Wunderbar, dann braucht Johannes sich doch nur einen Tee aus Benediktenkraut zu kochen, der seine Heilungschancen verbessern würde, oder? „Das wird leider nicht funktionieren. Sie müssen den Wirkstoff mit bestimmten Lösungsmitteln extrahieren und diesen dann in einer ganz bestimmten Dosis nehmen“, erklärt Fischer. Und die muss eine Punktlandung sein. „Ist die Dosis zu hoch, wirkt sie nicht, ist sie zu niedrig, aber auch nicht. Auch das Alter spielt bei der Dosisfindung eine Rolle „Bei ganz jungen Tieren hat der Wirkstoff keinerlei Einfluss, da dort die Regenerationsgeschwindigkeit ohnehin höher ist.  Dann haben wir erwachsene Tiere, die einem vielleicht 16-jährigen Menschen entsprechen und ca. 1,5 Jahre alte Mäuse – die entsprechen einem 60-jährigen Menschen. In jedem Alter braucht es  möglicherweise  eine  angepasste  Dosis. Wir wissen leider noch nicht, wie hoch sie beim Menschen sein muss. Daher müssen unbedingt weiterführende klinische Studien am Menschen durchgeführt werden”, sagt Fischer.   Denn das Heilungspotenzial  könnte  auch für ältere Verletzungen  bestehen. „Wenn wir Cnicin erst 6 Tage  nach der Verletzung gegeben  hatten, zeigte es ebenfalls noch positive Effekte.  Es gibt  bis jetzt  nichts Vergleichbares, was die Nervenheilung  fördert. In weiteren Studien wollen wir nun am Menschen testen, ob und bei welchen Dosen die Nervenregeneration zum Beispiel in einem zuvor abgetrennten Finger beschleunigt wird. Haben wir die optimale Dosis gefunden – und die Chancen stehen nicht schlecht – dann könnte man den Wirkstoff für alle möglichen  Nervenverletzungen verwenden. Auch bei Pferden und Hunden.“

Fischer warnt jedoch vor unseriösen Trittbrettfahrern.

„Es gibt immer Menschen, die das Kraut verkaufen wollen und in den Menschen unrealistische Erwartungen schüren. Da schmeißt man sein Geld aus dem Fenster heraus. Wir haben unsere Heilung auch nicht mit einem Extrakt erreicht, sondern mit dem   isolierten Wirkstoff, der die Selbstheilung anregt.“

Fazit: Ich hätte so gerne geschrieben, dass es ein Kraut gibt, dass Lahme wieder laufen lässt.

Doch die Wahrheit ist: Wer glaubt, seine Verletzungen mit Benediktenkraut heilen zu können, wird enttäuscht werden. Man braucht den isolierten Wirkstoff und muss die Dosis kennen. Ein älterer Mensch wird mehr brauchen, als ein mittelalter Mensch um den gewünschten Zustand der Zell-Jugend zu erreichen, in dem das Wachstum sich optimiert. Solange hat die Selbstheilung von der Natur gesetzte Grenzen. Und die liegen bei  Menschen bei ca.  180 mm. Solche Nervenverletzungen heilen meist, ohne größere Spuren zu hinterlassen, ob mit oder ohne Kraut. Also spart euch die Ausgaben. Die Zukunft aber stimmt uns zuversichtlich. Wenn Fischer seine Forschungen fortsetzen kann, wird er ein Mittel entwickeln, das die bisherige Wachstumsgrenze durchbricht und auch größere Nervenschäden heilbar macht.

Prof. Dietmar Fischer

Der Direktor des Zentrums für Pharmakologie an der Uniklinik Köln erhielt verschiedene Auszeichnungen für Arbeit zur Nervenregeneration, unter anderem den Forschungspreis der Deutschen Stiftung Querschnittlähmung.

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