
„Wenn du mir die nicht gibst, bist du nicht mehr meine Freundin“
Über die Herausforderung, ein Kind zu begleiten, auch wenn es weh tut.
Ich hatte den Kaffee noch nicht ganz ausgetrunken, als die Haustür aufflog. Meine Tochter kam aus der Schule. Aber nicht hüpfend und strahlen wie sonst. Die Schultern hingen, der Blick war gesenkt, der Schulranzen schleifte fast über den Boden. Es war dieser stille, verletzte Blick, der sofort alles in mir zusammenzog. Sie hatte Kummer. Richtig viel. Und verzog sich zunächst einmal direkt auf die Toilette.
Später setzte sie sich an den Küchentisch und hatte keinen Hunger. Sie sagte zuerst nichts. Ich auch nicht. Dann, leise: „Jana hat gesagt, sie ist nicht mehr meine Freundin, wenn ich ihr nicht meine Delfin-Haarspange gebe.“
Ich wusste sofort, welche Haarspange. Es war eine mit Glitzersteinen, die sie zum Geburtstag bekommen hatte. Eine, die sie besonders mochte. Jetzt lag sie in Janas Kinderzimmer – und in meinem lag ein kleines Herz, das gerade lernen musste, was emotionale Erpressung ist. Sie hatte nachgegeben. Nicht, weil sie es wollte, sondern weil sie Angst hatte, ausgeschlossen zu werden.
Da saßen wir nun.
Sie traurig, ich mit einem Wutknoten im Bauch. „Ist Jana wirklich so eine gute Freundin?“, tastete ich mich vor. Da wurde sie laut: „Jana ist meine beste Freundin, ich erzähle dir gar nichts mehr!“ Sie lief weg, weinte in ihrem Kinderzimmer und war jetzt wütend auf mich. Das war einfacher, als sich dem wahren Grund zu stellen. Denn es war nicht einfach ein Kinderstreit. Es gibt diesen Moment, in dem ein Kind merkt: Zugehörigkeit kann zur Verhandlungsmasse werden und Freundschaft wird von manchen anderen missbraucht. Und manchmal scheint es einfacher, etwas wegzugeben, als ausgeschlossen zu sein. Aber das fühlt sich dann eben auch nicht gut an. Das haben wir alle irgendwann einmal lernen müssen. Aber das eigene Kind so verzweifelt zu sehen, tut weh. Richtig weh. Wie reagiert man dann am Besten? Ich wusste es nicht.
Wenn Freundschaft zur Währung wird
Im Laufe des Abends kamen mehr Worte. Mehr Tränen. Und irgendwann fragte sie: „Bin ich jetzt doof, weil ich sie ihr gegeben habe?“ Nein. Niemand ist doof, weil er dazugehören will. Aber es tut weh, wenn man merkt, dass man dafür einen Preis bezahlt hat, der eigentlich zu hoch war. Ich hätte am liebsten gesagt: „Hol sie dir zurück.“ Oder: „Dann sei eben nicht mehr mit ihr befreundet.“ Aber das hätte nichts gelöst. Denn es ging nicht um die Haarspange. Es ging um das Gefühl, dass man verlassen werden kann, wenn man nicht gibt, was andere verlangen. Ich konnte sie kaum trösten, und innerlich weinte ich mit. Später, als sie eingeschlafen war, saß ich noch lange im Wohnzimmer. Sollte ich Janas Mutter anrufen, alles selbst regeln? Ich hatte schon den Hörer in der Hand. Und dann? Bei der nächsten Haarspange? Was mache ich dann? Ich kann sie doch nicht immer beschützen. Im ersten Moment ging es nur um eine kleine Haarspange. Aber in Wirklichkeit ging es darum, dass ein anderes Kind ihre Grenze überschritten hat und sie sich nicht verteidigt, weil sie Angst hat, allein dazustehen. Das ist keine Kleinigkeit.
Ich rief meine Mutter an.
Sie sagte, das hätte sie mit mir auch erlebt. „Ich hatte so eine Wut auf dieses Miststück, Tanja hieß sie“, erinnert sie sich. „Und was hat du gemacht?“ „Ich habe dich zum Tennis angemeldet. Da hast du andere Kinder kennengelernt und irgendwann hast du Tanja nicht mehr gebraucht.“ Stimmt. Ich erinnerte mich. Und vielleicht ist das der Anfang von innerer Freiheit: zu wissen, dass man Optionen hat. Dass man nicht alles aushalten muss, um nicht allein zu sein. Sie wollte doch immer in einen Schwimmverein. Noch am selben Abend vereinbarte ich einen Probetermin. Am nächsten Morgen erzählte ich ihr davon. Erst sah sie mich überrascht an. Dann wurde ihr Blick vorsichtig. „Muss ich da alleine hin?“ „Ich gehe mit dir da hin. Und du entscheidest. Wir können deine Schwimmsachen mitnehmen, aber du kannst es dir auch erst anschauen. Und dann überlegen, was du willst.“ Sie sagte nichts weiter, aber sie nickte. Und dann gingen wir zur Schule. Die Delfin-Haarspange war nicht das Thema. Aber ich sah, wie sie zögerte, als sie Jana sah, die ihre Spange im Haar trug. Und wie sie dann trotzdem zu ihr ging. Kinder verzeihen schnell. Aber sie vergessen nicht, was sich wie angefühlt hat.
Und irgendwann…
… wird es vielleicht eine neue Haarspange geben. Vielleicht auch eine neue Freundin. Und vielleicht, hoffentlich, einen Moment, in dem meine Tochter zu jemandem sagt: „Nein. Das will ich nicht.“ Und wenn das passiert, dann war der Verlust dieser Delfin-Haarspange wichtig. Lehrgeld ist bitter. Aber niemals umsonst.
Der Kommentar von Nina, unserem Lifestyle-Coach: Es geht um Selbstliebe
Was hier geschehen ist, ist für viele Eltern schmerzhaft. Ein Kind hat die Erfahrung gemacht, dass Zuneigung an Bedingungen geknüpft sein kann. Es musste sich entscheiden: Bleibe ich mir selbst treu oder folge ich der anderen? Das ist eine Grundsatzfrage und im Mittelpunkt steht nichts anderes als die Selbstliebe. Eigentlich fragt das andere Kind: wen liebst du mehr? Dich oder mich? Und als Eltern wünschen wir uns in dem Moment, dass sie das blöde andere Kind auf den Mond schießt und sich für sich selbst entscheidet. Denn für uns ist klar, dass man in einer Freundschaft keine Bedingungen stellt. Aber Kinder denken anders. Sie stehen noch am Anfang und dann ist man eben gerne mal überfordert.
In solchen Momenten brauchen Kinder keine Lösung, sondern Begleitung. Hör deinem Kind zu, ohne zu bewerten. Sag nicht: ‘Ach, das war sicher nicht so gemeint.’ Sag lieber: ‘Das hat dich verwirrt gemacht, oder?’ Das gibt ihm die Möglichkeit, in sich selbst hineinzufühlen.
Eine vorschnelle Bewertung wie „Das war aber gemein!“ kann das Kind überfordern. So war es ja auch in diesem Beispiel: Das Mädchen lief weg, in ihr Zimmer und weinte. Aus therapeutischer Sicht wäre es besser, neutral und neugierig zu bleiben: „Was meinst du, warum Jana das gemacht hat?“ So lernt das Kind, seine eigene Perspektive zu reflektieren. Eine Kernfähigkeit für gesunde Beziehungen. Denn Kinder lernen durch Reibung, Nähe und durch Grenzerfahrungen. Ein ‘Du bist nicht mehr mein Freund’ ist Teil dieser Lernreise und hilft ihnen, mit ihren Emotionen umzugehen. Was kannst du machen? Gute Fragen wären: „Was könntest du das nächste Mal sagen, wenn jemand das sagt?“ Oder: „Wie kannst du merken, ob du diese Freundschaft überhaupt gerade willst?“ Und: „Weißt du, dass du entscheiden darfst, mit wem du befreundet bist?“
Und man kann das Kind stärken, indem sie mit dem Schwimmverein eine neuen Raum öffnet, in dem das Kind andere Beziehungen erleben kann. Das wirkt vorbeugend gegen emotionale Abhängigkeit, wird aber das Grundsatzproblem nicht lösen. Kinder wachsen durch Konflikte und mit jedem Streit, den sie für sich lösen können, lernen sie Beziehungskompetenz. Das entwickelt sich über viele Jahre, als liebe Eltern, bleibt geduldig. Auch wenn es weh tut.
Der Kommentar von Jonas, unserem Spezialisten für Neurobiologie: Über die Angst, nicht dazuzugehören.
Früher nannte man das „Gruppendruck“. Heute wissen wir: Zugehörigkeit ist ein menschliches Grundbedürfnis. Das ist nicht nur emotional, das ist biologisch. In der Steinzeit war Alleinsein tödlich. Und auch heute tut es weh – wortwörtlich. Studien zeigen: Soziale Ausgrenzung aktiviert dieselben Hirnareale wie körperlicher Schmerz. Das erklärt, warum ein Kind eine glitzernde Delfin-Haarspange opfert – und warum wir als Erwachsene manchmal Dinge tun, sagen oder schlucken, die eigentlich gegen unser innerstes Gefühl gehen.
Was hilft? Einfach da sein. Nicht gleich reparieren, sondern erstmal aushalten, was da ist. Was ich besonders schön finde: Diese Mutter hat nicht nur auf den Schmerz reagiert, sondern eine neue Perspektive eröffnet mit dem Schwimmverein. Das ist wie bei einer guten Impfung: Sie schützt nicht vor allem, aber sie stärkt das System. Wenn Kinder erleben, dass sie mehr als eine Bezugsgruppe haben, mehr als eine Bühne, auf der sie gesehen werden, dann werden sie freier. Und mutiger.
Denn wer weiß: Vielleicht schwimmt dieses Mädchen bald selbstbewusst durch Becken und Leben und sagt irgendwann: „Ich bin liebenswert. Auch ohne Glitzer. Und ohne Bedingungen.“ Und wenn das passiert, ist eine Haarspange mehr als ein Accessoire gewesen.
Dann war sie ein Wendepunkt.
Der Kommentar von Florian, unserem Fitness-Coach: Da zieht es mir den Magen zusammen.
Warum? Weil ich weiß, wie sich das anfühlt. Nicht wegen einer Haarspange. Sondern weil ich auch erlebt habe, wie es ist, vermeintliche Freunde um sich zu haben, die nur bleiben, wenn man etwas gibt. Wenn man stark ist. Wenn man liefert. Wenn man gewinnt. Und ich sag euch was: Das ist verdammt einsam.
Und verdammt schmerzhaft. Was da passiert ist, ist nicht einfach Kinderkram.
Das ist der Anfang von einem Muster, das sich durchs ganze Leben ziehen kann, wenn niemand da ist, der einem zeigt:
Du bist nicht weniger wert, wenn du mal Nein sagst. Ich hab’s selbst zu spät gelernt. Dass es nicht darum geht, allen zu gefallen. Oder sich zu verbiegen, damit man nicht allein ist.
Deshalb hab ich großen Respekt vor dieser Mutter. Sie hat nicht geschimpft, nicht klug dahergeredet. Sie hat gespürt, was da los ist.
Und sie hat was getan, was mir in meinen jungen Jahren vielleicht auch gutgetan hätte: Sie hat nicht nur getröstet. Sie hat ihre Tochter gestärkt.
Ein Verein. Neue Menschen. Neue Möglichkeiten. Das klingt vielleicht banal – ist es aber nicht. Denn wer weiß, dass es Alternativen gibt, fällt nicht so leicht in emotionale Abhängigkeit. Und genau das brauchen Kinder. Und Erwachsene übrigens auch.
Ich hab im Leben viel gewonnen. Und einiges verloren. Aber wenn ich eines sicher weiß, dann das:
Echte Freunde erkennt man nicht daran, dass sie etwas wollen – sondern daran, dass sie bleiben, wenn man mal nichts gibt.
Und vielleicht war diese kleine Delfin-Haarspange der erste Schritt, das zu lernen.
Alles Gute, kleine Kämpferin.
Und an alle Mütter da draußen: Chapeau.