
Wenn der Asphalt dein Gegner wird – und du trotzdem wieder aufstehst
Mein Leben mit MS:
Hallo und herzlich willkommen bei MS-Voices! Ich bin Irene, und hier dreht sich alles um das Leben mit Multipler Sklerose (MS). Als ich vor einigen Jahren die Diagnose erhielt, hat sich mein Alltag auf den Kopf gestellt – und ich war plötzlich mit unzähligen Fragen, Ängsten und Herausforderungen konfrontiert. In diesem Blog möchte ich meine persönlichen Erfahrungen mit euch teilen und Menschen eine Stimme geben, die unter MS leiden. Wie ist das wirklich, mit MS zu leben? Wie verändert es den Alltag, die Beziehungen und die Zukunftsplanung? Hier gibt es ehrliche Einblicke, praktische Tipps und die ein oder andere Anekdote aus meinem Leben – direkt aus dem Herzen einer Betroffenen.
Ich bin innerhalb von zehn Tagen zwei Mal gestürzt. Nicht einfach ein bisschen gestolpert, sondern voll auf den Asphalt geknallt. Mitten im öffentlichen Raum. Mitten im Leben. Und ja – auch mitten ins eigene Schamgefühl.
Sturz 1: Asphaltkuss am Busbahnhof
Ich komme aus dem Bus, mache ein paar Schritte – zack. Mein rechtes Bein wird plötzlich weich wie Gummi. In dem Moment, in dem ich das bemerke, fliegt mein ganzer Körper auch schon nach vorn. Der Länge nach. Boom. Straßenpflaster küsst Gesicht. Na ja, fast.
Busbahnhof. Volles Programm. Menschen steigen ein und aus. Und ich? Liege da. Wie ein Maikäfer. Halbseitig (je nach Tagesform) gelähmt, also: Aufstehen? Ohne Hilfe? Vergiss es. In mir brüllt alles: Runter von der Straße! Irgendwie! Aber wie?!
Zum Glück kamen sofort drei Frauen zur Hilfe. Eine zog mich hoch, die andere bugsierte mich vom Asphalt, die dritte brachte mich zu einem Straßencafé gegenüber, wo ich mich erstmal sammeln konnte. Was mich am meisten getroffen hat, war nicht mal das schmerzende Knie oder die böse aufgeschürfte Handfläche – es war die Scham.
Die Blicke und die Gedanken der Menschen, die meinen Sturz beobachtet haben: Denken die jetzt, ich bin besoffen?
Und der noch üblere Gedanke: Vielleicht kann ich jetzt wirklich nicht mehr allein Bus fahren? Muss ich jetzt immer jemanden dabeihaben? Ich genieße das Alleinsein. Ich brauche das. Nicht nur die MS, sondern auch ich brauche Raum.
Zuhause kam dann das volle Schadensprotokoll ans Licht: Knie offen, blutig, nässend. Handfläche wie abgeschmirgelt. Und ein Bluterguss, der sich vom Knie übers halbe Schienbein zog. Sah fies aus – passte aber farblich überraschend gut zu meinem olivfarbenen Lieblingst-Shirt. Immerhin.
Sturz 2: Asphaltkuss reloaded
Keine zehn Tage später: gleicher Mist. Endhaltestelle. Wieder Bus ausgestiegen, wieder Bein wie Gummi, wieder zack – Boden. Diesmal auf einer stark befahrenen Straße. Fußgängerinsel in der Kurve, gefährlich genug für fitte Leute. Ich hatte gerade mal die erste Straßenhälfte geschafft. Dann wieder dieses verdammte Wegknicken. Und wieder auf fremde Hilfe angewiesen – eine junge Frau von der anderen Straßenseite half mir diesmal auf.
Und wieder: Ohnmacht. Verzweiflung. Wut. Angst.
Seitdem ist sie da, diese Angst. Beim Busfahren. Beim Gehen in der Stadt. Beim Überqueren jeder Straße. Was, wenn niemand hilft? Was, wenn ich diesmal unter ein Auto komme?
Was passiert da eigentlich im Körper – Wut, Angst & Kontrollverlust
Wenn wir stürzen – oder auch nur daran denken zu stürzen – läuft im Körper ein Alarmprogramm ab. Das Nervensystem schaltet in den Notfallmodus. Adrenalin, Cortisol, Herzklopfen. Fight, Flight oder Freeze. Bei MS kommt noch was obendrauf: Die Nervensignale fließen sowieso schon wie durch einen Kabelbruch – unklar, ob sie überhaupt ankommen. Der Körper hat Angst. Die Psyche auch. Und weil wir Menschen sind, tarnen wir das oft mit Wut.
Die Folge: Überforderung, Kontrollverlust, Schutzmechanismen. Wir schreien innerlich: Ich will das nicht! Ich kann das nicht! Ich will einfach nur normal sein! Verständlich. Nur: Genau hier kann man ansetzen. Nicht mit toxischem Positivitäts-Gedöns. Sondern mit echtem, innerem Training.
Kopftraining statt Asphaltkuss
Klingt abgefahren, aber ich hab eine Studie gefunden, die mir Hoffnung gemacht hat. Und zwar richtig.
Stell dir vor, du gehst – und dein Gehirn glaubt dir.
In einer Studie haben 66 MS-Betroffene an einem Experiment teilgenommen. Die eine Hälfte bekam eine Audio-Datei mit einer angeleiteten Bewegungsvorstellung. 15 Minuten lang. Eine Art geführte Fantasiereise, in der sie sich vorgestellt haben, wie sie sich in der Natur bewegen – gehen, balancieren, stehen. Die andere Hälfte bekam… nichts. Einfach 15 Minuten Ruhe.
Was rauskam? Die Gruppe mit der geführten Visualisierung hat danach messbar besser abgeschnitten. Beim Gehen (sowohl Strecke als auch Tempo), beim Gleichgewicht, beim sicheren Stehen.
Warum das funktioniert? Weil das Gehirn Bewegung auch dann trainiert, wenn wir sie uns nur vorstellen. Der motorische Kortex – unser Bewegungszentrum – feuert los, als würden wir uns tatsächlich bewegen. Und bei MS ist jede Möglichkeit, neue Wege im Gehirn zu bahnen, Gold wert.
(Quelle: The Effectiveness of Guided Imagery on Walking and Balance Dysfunction in Patients With Multiple Sclerosis: A Randomized Controlled Trial)
Ich kann vielleicht nicht verhindern, dass ich stürze. Aber ich kann mein Gehirn vorbereiten. Ich kann es trainieren – mit Bildern, mit inneren Bewegungsreisen. Und ich kann aufhören, mich dafür zu schämen, dass ich Hilfe brauche. Ich kann lernen, mich wieder sicherer zu fühlen.
Vielleicht ist das kein klassischer Heldinnenmoment. Aber es ist einer, den man sich zurückerobert.
“Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst, sondern die Entscheidung, dass etwas anderes wichtiger ist als die Angst.”
– Ambrose Redmoon
Also: Wenn der Asphalt dich mal wieder umhaut – dann steh auf. Innen zuerst. Der Rest kommt nach.
Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, diesen Beitrag zu lesen! Ich hoffe, dass meine Erfahrungen dir ein Stück Klarheit oder Ermutigung schenken konnten. Als ich die Diagnose MS bekam, fühlte ich mich oft allein und überfordert. Genau deshalb habe ich ein Buch geschrieben, das ich selbst damals so dringend gebraucht hätte. „Spring, damit du fliegen kannst.: Ein Selbsthilfe-Ratgeber für MS-Erkrankte und ihre Angehörigen.“ Es ist bei Minerva-Vision erschienen. Wenn du Interesse hast, schau es dir gerne an – vielleicht ist es genau das, was auch dir weiterhelfen kann. Oder hör dir meinen Podcast „MS-Voices“ an. Bis zum nächsten Mal!

Du hast auch MS und möchtest mit mir in meinem Podcast darüber sprechen? Dann schreib mir eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.