Leben

Der Wellness-Wahn und ich

Hier schreibt die Ute. Über 50, mit mehr Lebenserfahrung als Faltencremes im Badezimmerschrank. Liebt Bücher, guten Rotwein und Gespräche, die auch mal wehtun dürfen. Sie hält nichts von Schönheitswahn und Fitness-Apps, aber viel von ehrlichen Worten und warmem Apfelkuchen. Mit Sahne. Und jeden Dienstag schenkt sie uns ihre Gedanken.

Neulich bin ich durch die Stadt gelaufen und habe gezählt: Vier Yoga-Studios, drei Wellness-Tempel, zwei Salzgrotten und eine “Aura-Reinigungsstation” – alles auf einer Straße. Dazwischen plakatieren gut gelaunte Menschen mit perfekten Zähnen: “Entgifte dein Leben!” und “Finde deine innere Göttin!” Meine innere Göttin versteckt sich gerade hinter einem Stapel ungewaschener Wäsche und fragt sich, wann dieser ganze Wellness-Wahnsinn eigentlich angefangen hat.

Als Entspannung noch entspannend war

Früher war Wellness einfach: Ein heißes Bad nach einem langen Tag. Eine Tasse Tee auf dem Sofa. Ein Spaziergang ohne Fitnessuhr, die dir permanent mitteilt, dass du zu langsam gehst und zu wenig Schritte machst. Heute ist Wellness ein Vollzeitjob geworden. Du musst meditieren (aber richtig!), dich dehnen (mindestens 20 Minuten!), grüne Smoothies trinken (mit Spirulina!), deine Chakren ausbalancieren und dabei noch dankbar journaling betreiben. Und wenn du das alles nicht machst, bist du selbst schuld an deinem Stress. Ich bin erschöpft, nur vom Gedanken daran.

Der Druck der perfekten Selbstfürsorge

Selbstfürsorge ist das neue Zauberwort. Klingt gut, oder? Nur dass es mittlerweile mehr Stress macht als mein alter Job. Überall lese ich: “Du musst dir mehr Zeit für dich nehmen!” Ja, danke. Wann denn? Zwischen dem dritten Termin und dem Einkaufen? Oder soll ich um vier Uhr morgens aufstehen für meine “Me-Time”? Und dann die ganzen Regeln: Selfcare muss teuer sein, kompliziert und am besten fotografierbar. Eine Gesichtsmaske aus Gurkenscheiben? Pfft, langweilig. Es muss schon eine 24-Karat-Gold-Maske mit Hyaluronsäure und Peptiden aus der Tiefsee sein. Kostet nur 80 Euro und macht dich garantiert zehn Jahre jünger. Oder dein Geld zurück.

Meine Wellness-Realität

Weißt du, was meine Wellness-Routine ist? Montagabend, wenn alle endlich aus dem Haus sind: Ich mache mir einen Kaffee (ja, abends, kämpf mich!), setze mich auf mein völlig unaufgeräumtes Sofa und schaue eine Folge meiner Lieblingsserie. Ohne schlechtes Gewissen. Ohne zu meditieren. Ohne vorher noch schnell die Wohnung zu putzen. Das ist mein Spa-Tag. Kostet nichts, dauert eine Stunde, und danach fühle ich mich wie ein neuer Mensch. Oder wenn ich richtig verrückt werden will: Ich gehe in die Badewanne. Mit einem Buch. Und bleibe so lange drin, bis meine Finger schrumpelig sind. Manchmal sogar mit einem Glas Wein. Skandal!

Die innere Balance

Ach ja, die innere Balance. Die musst du auch ständig finden, ausbalancieren und harmonisieren. Als wäre sie ein entlaufenes Hamsterrad, das man einfangen muss. Aber mal ehrlich: Wer ist denn ständig ausgeglichen? Das Leben ist doch kein Wellness-Magazin. Manchmal sind wir gestresst, müde, schlecht gelaunt oder einfach nur genervt von dem ganzen Balancing-Quatsch. Und das ist völlig normal. Wir sind Menschen, keine Zen-Mönche mit Instagram-Account. Das Verrückte ist: Je einfacher meine “Wellness-Routine” wurde, desto entspannter bin ich geworden. Ich habe aufgehört, mich schlecht zu fühlen, weil ich keine Yoga-Matte besitze. Ich meditiere nicht, ich döse. Ich mache keine Atemübungen, ich seufze einfach mal tief, wenn mir danach ist.

Und weißt du was? Es funktioniert genauso gut.


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Was wirklich entspannt

Ein heißer Kaffee am Morgen: Fünf Minuten nur für mich, bevor der Tag losgeht. Kein Handy, keine To-Do-Liste, nur der Dampf aus der Tasse und das Vogelgezwitscher draußen.

Unperfektion zulassen: Die Wohnung muss nicht blitzsauber sein, bevor ich entspanne. Manchmal ist das Chaos sogar gemütlich.

Nein sagen: Zu Wellness-Partys, zu Detox-Challenges, zu allem, was sich anfühlt wie Arbeit statt wie Entspannung.

Kleine Fluchten: Ein Spaziergang ohne Ziel. Ein Telefonat mit der besten Freundin. Ein Stück Schokolade ohne schlechtes Gewissen.

Der wahre Wellness-Tipp

Hör auf, Wellness zu einem weiteren Punkt auf deiner To-Do-Liste zu machen. Entspannung entsteht nicht durch den hundertsten Kurs oder die teuerste Creme. Sie entsteht, wenn du dir erlaubst, einfach mal zu sein. Unproduktiv, unperfekt, unoptimiert.

Wellness ist nicht das, was andere für dich definieren. Es ist das, was dir gut tut. Auch wenn es nur eine warme Tasse Tee ist oder zehn Minuten auf der Couch mit geschlossenen Augen.

Mein Anti-Wellness-Programm

Also, hier ist mein revolutionärer Wellness-Tipp: Mach weniger. Erwarte weniger. Genieße mehr. Und wenn dich das nächste Mal jemand fragt, was du für deine Selfcare tust, sagst du einfach: “Ich atme. Automatisch. Seit über 50 Jahren. Klappt prima.” Dann gehst du nach Hause, machst dir einen Kaffee und freust dich über deinen völlig unoptimierten, aber ehrlichen Tag.

Die Ute vom Dienstag

P.S.: Während ich das hier schreibe, sitze ich in meinem alten Morgenmantel, trinke Kaffee aus einer angeschlagenen Tasse und habe ungewaschene Haare. Und rate mal: Ich fühle mich fantastisch.

Du willst mich teilen? Sooo gerne! Mit Mutter, Oma, Tochter, Schwiegermutter, Freundin oder Feindin – nur zu!

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