Familie

Warum Geschwister immer streiten

„Du warst immer Mamas Liebling!“

Kennst du diesen Satz? Vielleicht hast du ihn früher als Kind gedacht oder später in einem Streit mit deiner Schwester oder deinem Bruder laut ausgesprochen. Geschwister sind unsere ersten Verbündeten, Rivalen, Vorbilder, Kritiker. Sie prägen uns tiefer, als wir oft wahrhaben wollen. Geschwisterbeziehungen sind komplex, manchmal anstrengend, oft voller Liebe und manchmal führen sie sogar in den totalen Bruch.

Die „Entthronung“ der Erstgeborenen

Viele denken, Erstgeborene seien die Selbstsicheren, die Starken, die Anführer. Doch so einfach ist es nicht. Psychologen sprechen von der „Entthronung“: Das erste Kind erlebt die Eltern zunächst exklusiv, dann kommt ein Geschwisterchen und plötzlich muss es teilen.

Diese frühe Kränkung kann das ganze Leben prägen. Erstgeborene stellen oft hohe Ansprüche an sich selbst, übernehmen Verantwortung, ordnen sich unter oder versuchen, alles zu kontrollieren. Dabei verlieren sie manchmal den Zugang zu ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen.

Die Rolle der Jüngeren: der Rebell, um den man sich kümmern muss

Jüngere Geschwister gelten oft als die Freieren, die Experimentierfreudigen, die „Tollpatsche“. Sie sind nicht so gut wie die ersten, werden aber oft gerade deshalb geliebt. Und das kann Stoff für eine menge Konflikte geben. Interessant ist: Diese Rollen können sich mit der Zeit verändern. Vielleicht warst du früher die Rebellin und bist heute die Kümmernde. Oder dein Bruder war der Stille und ist heute der, der in der Familie den Ton angibt. Psychologisch gesehen formen sich diese Rollen nicht nur durch äußere Umstände, sondern auch durch unsere eigene Interpretation: Wie sehe ich meinen Platz in der Familie? Bin ich stolz auf meine „Rebellenseite“ oder empfinde ich sie als Last? Dann werde ich das womöglich ändern und andere Verhaltensweisen entwickeln.


Weitere Themen:

Wie Streit entsteht

Was, wenn aus der natürlichen Geschwisterdynamik Streit oder sogar Kontaktabbruch wird? Das kann durchaus geschehen, denn Eltern verteilen ihre Liebe nicht nach den gleichen Maßstäben. Das erste Kind wird vielleicht für seine Leistung gelobt, erlebt aber, dass das zweite Kind wegen seines Witzes geliebt wird. Der Unterschied ist wesentlich: das erste Kind wird wegen etwas geschätzt, was es tun muss. Das zweite wird geschätzt, weil es ist, wie es ist. Und das tut weh. Oft sind aktuelle Konflikte, etwa ums Erbe oder die Pflege der Eltern nur der sichtbare Teil eines viel tiefer liegenden Problems. Alte Verletzungen, vergrabene Eifersucht, unbewusste Loyalitäten: All das kann jahrzehntelang schwelen, bis es explodiert. Dann heißt es: „Du hast dich nie gekümmert!“ oder „Du hast immer alles an dich gerissen!“.

Versöhnen statt verhärten

Versöhnung heißt nicht, dass alles vergeben oder vergessen werden muss. Aber es bedeutet, die eigene Geschichte anzunehmen und Verantwortung für die eigene Rolle zu übernehmen. Vielleicht braucht es dafür ein offenes Gespräch, manchmal professionelle Unterstützung oder einfach ein gemeinsamer Spaziergang, bei dem das Schweigen gebrochen wird. In jedem Fall ist es wichtig, den Frieden mit sich und seiner Erziehung zu finden. Waren die Eltern ungerecht? Kann schon sein. Aber soll das nun mein ganzes Leben vergiften? Wenn der Stachel tief sitzt, kann eine Therapie helfen, die Vergangenheit zu heilen.

Was du für deine Geschwisterbeziehung tun kannst

  • Reflektiere deine Rolle: Warst du die Brave, der Kümmerer, die Rebellin? Und bist du das heute noch?
  • Sprich in Ich-Botschaften: Statt „Du hast immer…“ lieber „Ich habe mich damals so gefühlt…“.
  • Suche kleine Schritte der Annäherung: Eine Postkarte, ein Anruf, ein spontanes Treffen können Wunder wirken.
  • Akzeptiere, dass es nicht immer Harmonie geben muss: Geschwister dürfen unterschiedlich bleiben.

Geschwister sind Spiegel deiner Entwicklung

Geschwisterbeziehungen sind die längsten Bindungen deines Lebens. Sie spiegeln dir, wo du stehst, was dich geprägt hat, was du noch heilen darfst. Vielleicht ist es an der Zeit, dich zu fragen: Bin ich noch im alten Familienmuster gefangen? Oder bin ich bereit, einen neuen Blick auf meine Geschwister und mich selbst zu werfen?


Der Kommentar von Nina, unserem Mental-Health-Coach: Gleich ist nicht gerecht.

Eltern wollen immer das Beste für ihre Kinder. Doch was oft übersehen wird: Das Beste für ein Kind ist nicht dasselbe wie das Beste für sein Geschwister.

Kinder sind nicht gleich. Sie haben unterschiedliche Temperamente, Bedürfnisse und Talente. Eltern, die versuchen, alle „gleich“ zu behandeln, schaffen unabsichtlich oft Rivalität. Denn „gleich“ ist nicht dasselbe wie „gerecht“. Die wichtigste Aufgabe der Eltern ist es, jedes Kind in seiner Einzigartigkeit zu sehen und wertzuschätzen. Das bedeutet, nicht zu vergleichen, nicht zu bewerten, sondern zu begleiten.

Wenn Eltern es schaffen, jedem Kind zu vermitteln: „Du bist für uns genau richtig, so wie du bist“, entsteht weniger Konkurrenz. Kinder müssen dann nicht um Liebe kämpfen oder sich über das Geschwister definieren. Wertschätzung ist der Schlüssel. Nicht Lob für Leistungen, sondern echtes Interesse an der Person. Fragen statt Ratschläge, zuhören statt urteilen. So entsteht ein Raum, in dem sich Kinder als Individuen erleben können — ohne ständig den Blick auf das Geschwister werfen zu müssen.

Nur wer sich gesehen fühlt, kann dem anderen wirklich gönnen, was er bekommt.


Teilen