Kolumnen

Über Radiowecker, Zeitverschiebung und Parallelwelten

Die Alltagsphilosophie-Kolumne exklusiv bei Minerva VISION:

Denken hilft auch nicht – Alltagsbeobachtungen mit Tiefgang


Ich weiß nicht, wie’s dir geht, aber ich lebe seit drei Monaten in einer Parallelzeitzone. Mein Radiowecker geht nämlich fünf Minuten nach. Nicht vier, nicht sechs. Exakt fünf Minuten. Als hätte er beschlossen, sein eigenes Zeitverständnis zu entwickeln.

Jeden Morgen das gleiche Ritual: Der Wecker klingelt um 7:05 laut Radiowecker, aber eigentlich ist es 7:00. Jeden Tag denke ich: “Heute stellst du ihn richtig.” Und jeden Tag denke ich auch: “Eigentlich ist es ganz praktisch, dass du immer etwas früher dran bist.”

So lebe ich jetzt in dieser merkwürdigen Zwischenwelt. Fünf Minuten versetzt zur restlichen Menschheit. Wenn andere sagen “halb acht”, denke ich automatisch “halb acht plus fünf”. Ich bin der Typ geworden, der zu früh kommt, ohne es zu wollen.

Und weißt du, was das Verrückte ist? Ich habe mich daran gewöhnt. Mehr noch: Ich mag es. Diese fünf Minuten sind zu meinem persönlichen Zeitpuffer geworden. Meine private Zeitreserve. Während alle anderen in der normalen Zeit leben, schwebe ich fünf Minuten voraus durch den Tag.

Das Problem ist nur: Inzwischen vergesse ich manchmal, dass die Welt nicht in meiner Zeit lebt. Neulich stand ich zehn Minuten zu früh am Bahnhof und war irritiert, dass der Zug noch nicht da war. Erst dann fiel mir ein: Ah ja, normale Zeit.

Was absurd ist: Ich könnte das Problem in zwei Sekunden lösen. Ein Knopfdruck. Zack, Normalzeit. Aber irgendwie will ich nicht mehr. Diese fünf Minuten sind zu meinem geworden. Mein kleiner Zeitvorsprung gegen das Chaos des Alltags.

Manchmal frage ich mich, ob alle Menschen so leben. Jeder in seiner eigenen kleinen Zeitabweichung. Der eine drei Minuten vor, die andere zwei Minuten nach. Und wir treffen uns alle irgendwo in der Mitte und tun so, als würden wir synchron durchs Leben gehen.

Vielleicht ist Zeit sowieso nur eine Illusion. Vielleicht ist mein Radiowecker der ehrlichste von allen, weil er zugibt, dass Zeit relativ ist. Einstein hätte ihn gemocht.

Letzte Woche hat ein Freund gefragt, warum ich immer so entspannt zu Terminen komme. “Zeitmanagement”, habe ich gesagt. Stimmt ja auch. Nur anders, als er denkt.

Die Erkenntnis?
Manchmal brauchst du keine Perfektion. Manchmal reicht eine kleine, liebgewonnene Abweichung, die dir das Gefühl gibt, dem Leben einen Schritt voraus zu sein. Auch wenn es nur fünf Minuten sind.

Unser Kolumnist: Karl von Nebenan

Beruf: Irgendwas mit Verwaltung, aber keiner weiß, was er genau verwaltet, Kolumnist | Wohnt: Im Erdgeschoss – seit 1983 | Besonderheiten: Besitzt sieben verschiedene Thermoskannen | Hält Schweigen für eine Form von Respekt – oder Überlegenheit

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