Sie hilft, kleine Risse in Schweigemauern zu reißen….
Drei Minuten. Während andere in drei Minuten ihre Mails checken oder den Kaffee umrühren, bringt Professorin Dr. Dr. Pfleiderer Medizinstudierenden bei, wie sie in dieser Zeit ein Leben verändern können. Sie schärft deren Blick für die Zeichen, die darauf hindeuten können, dass jemand häusliche Gewalt erlebt, Signale, die oft übersehen werden – ein ausweichender Blick, eine Geschichte, die nicht zu den Symptomen passt, blaue Flecken an den falschen Stellen. Sie zeigt ihnen, dass Medizin nicht nur heißt, beispielsweise Knochenbrüche zu schienen, sondern auch Seelenbrüche wahrzunehmen und eine Brücke zu bauen, damit das Unaussprechliche offenbart werden kann.
Und das Beste: Sie macht das nicht nur hier, sondern überall auf der Welt. Als ehemalige Präsidentin des Weltärztinnenverbandes ist sie global vernetzt – und setzt sich international dafür ein, häusliche Gewalt gegen Menschen zu stoppen, bevor sie eskaliert. Ihr Motto? „Hinschauen. Ansprechen. Nicht wegsehen.“
Es ist ein Fall, der uns wohl allen unter die Haut ging: Die zehnjährige Sarah stirbt im August 2023 zu Hause in ihrem Kinderzimmer. Totgeprügelt, nach jahrelangen Misshandlungen. Ihre Lehrerin hatte blaue Flecken bemerkt, doch die Familie wiegelte ab. „Ein Sturz mit Rollschuhen“, hieß es. Erst im Prozess wird das wahre Ausmaß sichtbar: Sarah wurde über Jahre hinweg systematisch und brutal misshandelt – und niemand hat es gemerkt.
Das sind Fälle, die Bettina Pfleiderer nicht zur Ruhe kommen lassen.
„Wir Ärztinnen und Ärzte sind oft die Einzigen, die die Zeichen erkennen – doch wir haben nicht immer das Wissen oder den Mut, nachzufragen“, sagt sie. „Von 2016 bis 2019 war ich Präsidentin des Weltärztinnenbundes, davor leitete ich drei Jahre dessen Wissenschaftskomitee. Es zeigte sich klar, dass auch international unter Medizinerinnen und Medizinern erschreckend viel Unwissen über häusliche Gewalt existiert – und gleichzeitig ein enormer Bedarf an Aufklärung besteht. Leider wissen viele nicht, wie wichtig unsere Rolle als Ärzte und Ärztinnen ist, denn wir sind oft die Einzigen, die überhaupt erkennen können, dass häusliche Gewalt vorliegt. Nur etwa zehn Prozent der Betroffenen wenden sich an die Polizei – aber sie müssen irgendwann zum Zahnarzt oder zur Zahnärztin, zur Ärztin oder zum Arzt. Und genau dort müssen wir sie erreichen. Doch uns in der Medizin fehlt meist das nötige Wissen, wie wir dieses sensible Thema verantwortungsvoll ansprechen können.“ Deshalb setzt sie sich dafür ein, dass Medizinerinnen und medizinisches Personal – von Zahnärzten und Zahnärztinnen bis hin zu Hebammen – Anzeichen häuslicher Gewalt früher erkennen, ansprechen und Betroffenen helfen.
Ärztinnen und Ärzte können Schicksale verändern – zum Besseren.
„Es geht um Wahrnehmung und um respektvolle Kommunikation – und das in dem kurzen Zeitrahmen, der einer Ärztin oder einem Arzt für eine Patientin oder einen Patienten zur Verfügung steht. Ich hatte bereits im Vorfeld die Möglichkeit, mich in verschiedenen EU-Projekten zu diesem Thema zu engagieren – dabei ging es in der Regel um eine bessere Zusammenarbeit zwischen Polizei, Justiz, Medizin und Sozialarbeit. Doch dieses neue Projekt stellt die Medizin in den Mittelpunkt: Wie können beispielsweise Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte und Hebammen besser ausgebildet werden, damit sie die Anzeichen von Gewalt erkennen und das Thema so ansprechen, dass die Würde der Betroffenen gewahrt bleibt?“
Dazu hat sie an der Universität Münster, an der sie als Professorin lehrt, deutschlandweit ein einzigartiges Lehrkonzept mit entsprechenden Lehrmaterialien über das Thema häusliche Gewalt entwickelt. Münster ist eine der wenigen Universitäten, die Gewalterkennung und -prävention im Lehrplan verpflichtend verankert hat – eine Seltenheit in Deutschland. Pfleiderer hat dafür gekämpft. Und dort lehrt sie in der chirurgischen Pflichtlehre in einem Modul zur häuslichen Gewalt, wie viel eine Ärztin oder ein Arzt in sehr kurzer Zeit in der chirurgischen Notaufnahme wahrnehmen kann, wenn sie oder er geschult ist. „Es geht darum, für die „roten Flaggen“, die auf Gewalt hindeuten, sensibilisiert zu werden. Wir können dadurch Türen öffnen. Wenn wir als Ärztinnen und Ärzte nur ein einziges Mal nachfragen, kann das genau der Moment sein, der alles verändert.“
„Wir unterliegen der Schweigepflicht – aber das ist vielen Betroffenen nicht bewusst.“
Dass der Bedarf besteht, zeigt die Statistik. „Die tatsächlichen Zahlen werden durch Dunkelfeldstudien erfasst, und sie zeigen eine enorme Diskrepanz zwischen offiziellen Statistiken und dem, was Betroffene berichten. Wenn man davon ausgeht, dass jede dritte Person betroffen ist – und ich sage bewusst nicht nur Frauen, sondern auch Kinder, Männer, ältere Menschen –, dann sprechen wir über ein massives Problem. Jede dritte Person – das sind rund 26 Millionen Menschen in Deutschland. Weltweit sind es natürlich erheblich mehr. Und nur 20 % dieser Menschen haben eine Ärztin oder einen Arzt aufgesucht – obwohl sie eigentlich medizinische Hilfe benötigt hätten. Viele Betroffene wissen leider nicht, dass wir als Ärztinnen und Ärzte der Schweigepflicht unterliegen und wir gegen den Willen von erwachsenen Betroffenen die Polizei nicht über das Vorliegen von häuslicher Gewalt informieren dürfen.“
Gewalt hat viele Gesichter
Dass Misshandlungen im medizinischen Alltag nicht immer bemerkt werden, liegt daran, dass sie so viele verschiedene Gesichter haben. „Es geht nicht nur um körperliche Gewalt, sondern auch um psychische Gewalt – ökonomische, soziale Kontrolle, Einschüchterung. Schätzungen zufolge sind rund 60 % der häuslichen Gewalt nicht sichtbar, sondern äußern sich in Form von verbalen Drohungen. Um an diese verborgenen Gewaltstrukturen heranzukommen, muss man kleine Risse in den Mauern finden, die die Betroffenen um sich aufgebaut haben. Erst dann kann man wirklich helfen. Denn psychische Gewalt macht krank. Betroffene kommen mit Schmerzen am ganzen Körper, für die es keine sichtbare Ursache gibt. Wir wissen zum Beispiel, dass Essstörungen oft in Kindheitstraumata wurzeln können. Schon das bloße Miterleben häuslicher Gewalt kann gesundheitliche Folgen haben.“
Ein oft übersehener Bereich ist die Zahnmedizin.
„Zahnärztinnen und Zahnärzte denken selten an Vernachlässigung als Form von häuslicher Gewalt. Doch wenn Kinder mit vielen kariösen Zähnen kommen, ist das oft ein Zeichen für eine generelle Verwahrlosung. Vernachlässigung ist eine Form von Kindesmisshandlung – aber wie spricht man das an? Wann ist der richtige Moment für ein Gespräch? Genau hier sind wir gefragt.“
Die offensichtlichen blauen Flecken sind oft nicht das Hauptmerkmal. „Natürlich bekommen Kinder mal blaue Flecken – an den Knien, an den Ellenbogen, an der Nase. Dorthin, wo sie fallen. Doch es gibt bestimmte Stellen, bei denen Alarmglocken schrillen sollten: Gesäß, Rücken, Bauch. Auffällig sind auch bestimmte Arten von Frakturen, etwa Dreh- oder Spiralbrüche an den Armen. Striemenförmige Hämatome oder Blutergüsse in unterschiedlichen Stadien – ein dunkler, ein grüner und ein gelber Fleck gleichzeitig. Besonders besorgniserregend: Ein Säugling, der sich noch nicht drehen kann, aber blaue Flecken hat. Das ist ein absolutes Alarmsignal. Man kann also viel mehr „lesen“, als man denkt. Wer mit Gewaltverletzungen in die Praxis oder Notaufnahme kommt, tut das oft erst einige Tage später. Auch das kann ein Hinweis sein. Für uns ist es dann hilfreich, dass sich blaue Flecken erst nach ein bis zwei Tage gut sichtbar werden – das gibt uns Anhaltspunkte. Ein tiefvioletter Fleck, der angeblich gerade erst entstanden ist, weil man stürzte? Das passt nicht. Oder Flecken in verschiedenen Farben? Sie können ein Anzeichen dafür sein, dass es über einen längeren Zeitraum hinweg zu Gewaltanwendungen kam. Bei körperlicher Gewalt ist die wichtigste Frage: Passt die Geschichte, die erzählt wird, zu dem, was wir sehen?“
Medizinstudium: Gewalt erkennen als Teil der Pflichtlehre
Münster gehört zu den wenigen Universitäten, an denen dieses Thema Teil der Pflichtlehre ist. „Alle Medizinstudierenden müssen sich damit auseinandersetzen – niemand kann dem Thema „entfliehen“. Denn wer das Thema ignoriert, lässt Betroffene im Stich – und das ist in der Medizin schlichtweg unverantwortlich. Ich sehe mich als Multiplikatorin. Nicht nur Medizinstudierende profitieren von diesen Schulungen – auch Pflegekräfte, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, kommen auf uns zu. Wir können junge Ärztinnen und Ärzte sensibilisieren und die Medizin dadurch ein Stück menschlicher machen.“ Und die Welt ein Stückchen besser.
„Unser Ansatz ist praxisnah: Wir lernen, Signale zu erkennen, sensibel zu kommunizieren und gerichtsfest zu dokumentieren. Gerade in der chirurgischen Notaufnahme ist dieses Wissen essenziell. Dort geht es um das, was man sieht – und darum, es richtig festzuhalten. Das ist mir besonders wichtig.“
Außerdem gibt Pfleiderer ihren Studentinnen und Studenten Selbstbewusstsein. „Es muss ihnen bewusst gemacht werden, dass sie in der Behandlungssituation bestimmen, wer im Raum bleibt und wer nicht. Wir sind sozusagen die Hausherrinnen und Hausherren. Ein Warnsignal für das Vorliegen von häuslicher Gewalt kann es nämlich sein, wenn immer eine andere Person für die Patientin oder den Patienten spricht. Deshalb ist es so wichtig, Patienten und Patientinnen zuerst allein zu sehen – erst danach kann die Begleitperson hinzukommen.“
Unser Ziel ist es, die Mauern der Angst zu durchbrechen.
„Es ist wichtig, immer wieder aufzuzeigen: Das ist nicht normal, so darf niemand mit Ihnen umgehen. Viele Betroffene haben über Jahre eine Normalisierung entwickelt: Sie glauben, es sei selbstverständlich, jeden Abend angeschrien zu werden, dass das Geld kontrolliert wird, dass gedroht wird. Aber das ist psychische Gewalt – und sie hinterlässt tiefe Spuren. Deshalb ist es wichtig, immer wieder kleine Hinweise zu platzieren, die nachwirken. Oft braucht es mehrere Anläufe, bis jemand bereit ist, darüber zu sprechen. Aber jedes dieser Gespräche kann ein Türöffner sein.“
Hinschauen, ansprechen, nicht wegsehen
„Mir ist eines besonders wichtig: nicht wegzuschauen. Menschen anzusprechen. Das ist Fürsorge, die wir alle füreinander zeigen sollten.** Ein Beispiel für eine rote Flagge: Jemand sieht man immer mit kurzen Ärmeln im Sommer – und plötzlich, an einem heißen Sommertag bei 30 Grad, trägt dieselbe Person langärmelige Kleidung. Das sollte eine Frage auslösen: Geht es Ihnen/Dir gut?
Und genau deshalb wird die Welt dank Menschen wie Bettina Pfleiderer ein Stück besser. Jeden Tag. Stück für Stück. Und das ist ein guter Anfang.
Bilder: copyright: @UKM, Interview: Claudia de la Motte