
Sei doch einfach du selbst.
Warum Authentizität der Schlüssel zu echter Zugehörigkeit ist
Deine zehnjährige Tochter kommt weinend nach Hause. In der Schule haben alle über den neuen Blockbuster-Film gesprochen, den sie nicht sehen wollte – zu gruselig für ihren Geschmack. Jetzt fühlt sie sich ausgeschlossen. „Mama, bin ich komisch?”, fragt sie dich. In diesem Moment stehst du vor einer der wichtigsten Erziehungsfragen überhaupt: Wie hilfst du deinem Kind dabei, authentisch zu bleiben, ohne die Zugehörigkeit zu verlieren? Die Antwort liegt in einem Paradox: Echte Zugehörigkeit entsteht erst dann, wenn wir aufhören, uns zu verbiegen. Doch was bedeutet das konkret für den Familienalltag?
Authentizität ist lebensnotwendig
„Sei einfach du selbst” – diesen Rat hören wir oft. Doch was so selbstverständlich klingt, ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Besonders für Kinder, die täglich zwischen verschiedenen Erwartungen navigieren müssen. Authentisch zu sein bedeutet nicht, impulsiv zu handeln oder rücksichtslos zu werden. Es bedeutet vielmehr, die eigenen Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen und ihnen Raum zu geben, auch wenn sie nicht immer bequem sind. Kinder, die lernen, ihre innere Stimme zu hören und zu respektieren, entwickeln ein stabiles Selbstwertgefühl, das sie durch alle Lebensphasen trägt.
Wenn Anpassung zur Falle wird
Viele von uns haben früh gelernt: „Stell dich nicht so an”, „Das macht man nicht” oder „Sei nicht so empfindlich”. Diese gut gemeinten Ratschläge können jedoch dazu führen, dass Kinder ihre authentischen Reaktionen unterdrücken. Sie lernen zu funktionieren statt zu fühlen. Die Folge? Erwachsene, die nicht mehr wissen, was sie wirklich wollen. Die sich in Beziehungen verlieren oder in Jobs verharren, die sie unglücklich machen. Deshalb ist es so wichtig, bereits bei unseren Kindern anzufangen und ihnen zu zeigen: Du darfst du sein – mit allem, was dazugehört.
Sicherheit als Grundlage für was Echtes
Kinder brauchen einen sicheren Hafen, um authentisch sein zu können. Dieser sichere Hafen entsteht nicht durch Perfektion, sondern durch bedingungslose Annahme. Wenn dein Kind weiß, dass es geliebt wird – auch mit seiner Wut, seiner Traurigkeit oder seiner Eigenart – traut es sich, echt zu sein. Das bedeutet für dich als Mutter: Du darfst deine eigenen Gefühle zeigen. Wenn du enttäuscht bist, musst du nicht so tun, als wäre alles in Ordnung. Wenn du unsicher bist, darfst du das zugeben. Deine Ehrlichkeit gibt deinem Kind die Erlaubnis, ebenfalls ehrlich zu sein.
Vorleben statt predigen
Die wichtigste Lektion über Authentizität lernen Kinder nicht durch Worte, sondern durch Beobachtung. Wenn du „Nein” sagst und dabei bleibst, lernt dein Kind Grenzen zu setzen. Wenn du deine Schwächen zugibst, lernt es, dass Perfektion nicht erreichbar und auch nicht nötig ist. Kleine Gesten haben große Wirkung: Wenn du müde bist und sagst: „Ich brauche jetzt zehn Minuten für mich”, zeigst du deinem Kind, wie Selbstfürsorge aussieht. Wenn du dich bei einem Fehler entschuldigst, demonstrierst du Verantwortung ohne Selbstverurteilung.
Mut zur Einzigartigkeit entwickeln
In einer Welt voller Vergleiche durch soziale Medien ist es besonders herausfordernd, authentisch zu bleiben. Umso wichtiger ist es, Kindern zu vermitteln: Normal sein ist nicht das Ziel. Das Ziel ist, sich selbst treu zu bleiben und die eigene Einzigartigkeit als Geschenk zu verstehen. Das kannst du fördern, indem du die besonderen Eigenschaften deines Kindes würdigst – auch wenn sie manchmal unbequem sind. Das introvertierte Kind, das lieber liest statt auf Partys zu gehen, ist nicht weniger wertvoll als das extrovertierte, das gerne im Mittelpunkt steht.
Fünf kraftvolle Sätze für authentische Kinder
Diese Worte können deinem Kind helfen, sich selbst treu zu bleiben:
- „Du darfst fühlen, was du fühlst – und ich bleibe bei dir.” Damit zeigst du: Gefühle sind okay, auch die schwierigen.
- „Es ist in Ordnung, anders zu sein.” Du hilfst deinem Kind zu verstehen, dass Einzigartigkeit keine Schwäche ist.
- „Dein Wert hängt nicht davon ab, ob andere dich mögen.” Eine Erinnerung daran, dass Selbstliebe wichtiger ist als die Liebe anderer.
- „Du musst nicht laut sein, um gehört zu werden.” Besonders für stille Kinder ein wichtiger Zuspruch.
- „Du bist genug. Genau so, wie du bist.” Der wichtigste Satz von allen – er schenkt bedingungslose Annahme.
Der Kommentar von Ingrid, Erzieherin im KiGa: Kinder sind von Natur aus authentisch. Aber das reicht den Eltern oft nicht.
Kinder sind von Natur aus authentisch. Sie weinen, wenn sie traurig sind, sie lachen aus vollem Herzen, sie sagen „Nein”, wenn sie etwas nicht möchten. Doch schon im Kindergartenalter beginnen sie zu spüren: Manche Teile von mir sind erwünscht, andere nicht. Das Kind, das jeden Morgen weint, wenn die Mama geht – es wird oft als „schwierig” abgestempelt. Dabei zeigt es nur ehrlich seine Gefühle. Das stille Kind in der Ecke – es bekommt zu hören, es solle „aus sich herauskommen”. Aber vielleicht ist genau diese Zurückhaltung seine Art, die Welt zu erkunden.
In meiner 25-jährigen Praxis habe ich gelernt: Kinder brauchen keine Erziehung zu mehr Authentizität. Sie brauchen Erwachsene, die ihre Authentizität nicht beschädigen. Sie brauchen uns als Zeugen ihrer Einzigartigkeit, nicht als Korrektoren ihrer Persönlichkeit.
Wenn ein Kind aggressive Impulse zeigt, ist die Frage nicht: „Wie bekomme ich das weg?” Die Frage ist: „Was will dieses Kind mir durch sein Verhalten sagen?” Oft ist Aggression nur der hilflose Versuch, eine Grenze zu ziehen oder ein Bedürfnis auszudrücken. Die Eltern, die zu mir kommen und fragen: „Warum ist mein Kind so anders als die anderen?”, lade ich ein umzudenken. Die richtige Frage wäre: „Wie kann ich meinem Kind helfen, stolz auf sein Anderssein zu sein?”
Authentizität ist kein Luxus für Kinder – sie ist ihr Geburtsrecht. Unsere Aufgabe ist es, dieses Recht zu schützen, auch wenn es manchmal unbequem wird. Denn ein Kind, das sich selbst verliert, um dazuzugehören, wird als Erwachsener nicht plötzlich wissen, wer es wirklich ist.