
Schatten-Arbeit im Kinderzimmer: Wie wir unsere Kinder vollständig machen
Stell dir vor, du liest deinem Kind abends ein Märchen vor. Zum Beispiel Pippi Langstrumpf, der Klassiker von Astrid Lindgren. Plötzlich springt es auf, streckt die Arme in die Luft und ruft laut: „Ich bin das stärkste Kind der Welt!“
Vielleicht möchtest du in diesem Moment sagen: „Sei nicht so wild! Setz dich wieder hin!“ Aber genau darin steckt ein wichtiger Moment: Dein Kind zeigt dir seine „dunkle Seite“. Die Seite, die sich nichts vorschreiben lässt, die laut ist, die Regeln bricht und sich die Welt so gestaltet, wie sie ihr gefällt. Und genau diese Seite brauchen wir, als Kinder und als Erwachsene.
Der „Schatten“ ist mehr als nur das Böse
In der Psychologie wird mit „Schatten“ all das bezeichnet, was wir lieber verstecken: Wut, Neid, Eifersucht, Scham, Gier. Alles, was nicht zu unserem Idealbild passt. Viele von uns wollen immer freundlich, hilfsbereit, selbstlos sein. Aber niemand ist nur hell. Wenn wir unsere Schattenseiten verdrängen, steuern sie uns aus dem Verborgenen. Dann platzen sie plötzlich heraus, als unkontrollierte Wut, zynische Kommentare oder dauerhafte Unzufriedenheit. Erst wenn wir sie annehmen, werden wir wirklich frei und vollständig.
Märchen als Bühne für unsere Schatten
Märchen sind voll von Schattenfiguren: Hexen, neidische Königinnen, böse Wölfe. Kinder spüren intuitiv, was dahintersteckt, ohne dass wir es erklären müssen. Sie erleben in Geschichten, dass es Mut braucht, sich Gefahren zu stellen, innen wie außen.
Die böse Stiefmutter in Schneewittchen steht für Eifersucht und Rivalität. Der Wolf in Rotkäppchen für verschlingende Gier und Aggression. Aber gerade diese Figuren helfen Kindern und uns Erwachsenen, sich mit den eigenen „verbotenen“ Gefühlen auseinanderzusetzen.
Warum Kinder Karlsson lieben
Karlsson vom Dach ist laut, verfressen, frech und genau deshalb so beliebt. Er darf alles, was wir uns oft verbieten: Fehler machen, zu viel essen, über sich selbst lachen. Wenn Kinder sich mit solchen Figuren identifizieren, lernen sie: „Ich darf auch mal wütend sein, ich darf auch mal egoistisch sein und trotzdem bin ich liebenswert.“
Eltern neigen oft dazu, solche Seiten sofort zu bewerten: „Du bist böse!“ Stattdessen wäre es hilfreicher zu sagen: „Dieses Verhalten gefällt mir nicht, aber du bist immer okay.“ So kann das Kind lernen, Wut oder Trotz als Teil seiner selbst anzunehmen, ohne sich dafür schlecht zu fühlen.
Schattenarbeit für Erwachsene: Zurück zu Pippi und Karlsson
Nicht nur Kinder profitieren von Märchen und Kinderbüchern. Auch wir Erwachsenen tragen verborgene Schatten mit uns herum. Vielleicht erinnerst du dich an deine Lieblingsfigur von früher: Pippi Langstrumpf, Michel aus Lönneberga oder Karlsson. Diese Figuren zeigen uns: Wir dürfen widersprüchlich sein. Stark und verletzlich. Lieb und wütend. Angepasst und wild. Wenn du deine Schattenseiten anerkennst, findest du oft verborgene Schätze: Kreativität, Mut, Eigenständigkeit. Du wirst unabhängiger von der Meinung anderer und liebevoller mit dir selbst.
Wie du mit deinem Kind (und dir selbst) über Schatten sprichst
- Erzähle ohne Bewertung: Lies Märchen vor und stelle offene Fragen: „Warum hat Rotkäppchen dem Wolf geglaubt?“ oder „Findest du, Karlsson ist gemein oder lustig?“
- Ermutige, Gefühle auszudrücken: Lass dein Kind sagen, wenn es wütend, neidisch oder enttäuscht ist, ohne es zu beschämen.
- Teile deine eigenen Erfahrungen: Erzähl auch von deinen schwierigen Gefühlen. So lernt dein Kind: Gefühle sind normal.
Werde vollständig
Schattenarbeit bedeutet, sich selbst in all seinen Facetten zu erkennen und anzunehmen. Du bist nicht nur die Liebevolle, die Starke, die Harmonische. Du bist auch die Wütende, die Fordernde, die Freche und das ist gut so.
Vielleicht ist genau jetzt der richtige Moment, dein altes Märchenbuch hervorzuholen. Lies es nicht nur deinem Kind vor, sondern auch dir selbst. Lass dich daran erinnern, dass du nur vollständig bist, wenn du auch deine Schattenseiten umarmst.
Der Kommentar von Nina, unserem Mental-Health-Coach:
Wir alle tragen Licht und Schatten in uns. Das, was wir in Märchen als „böse Hexe“ oder „Wolf“ erkennen, ist oft ein Spiegel unserer eigenen, unbewussten Anteile.
Die sogenannte Schattenarbeit bedeutet, sich diesen verdrängten Seiten zuzuwenden, ohne sie zu verurteilen. Wenn wir diese Anteile annehmen, statt sie abzulehnen, gewinnen wir psychische Integrität und innere Freiheit.
Gerade Kinder spüren intuitiv, dass diese „dunklen Figuren“ keine fremden Monster sind, sondern Ausdruck innerer Konflikte und Wünsche. Indem wir ihnen die Möglichkeit geben, mit diesen Seiten spielerisch in Kontakt zu treten — wie bei Karlsson oder Pippi — vermitteln wir: „Alles, was in dir ist, darf da sein.“
Erst wenn wir lernen, unsere eigenen Schatten liebevoll zu integrieren, können wir auch unsere Kinder dabei unterstützen, ganz zu werden.