
„Meine Mutter hat mich rausgeworfen.“
Erzähl mir dein Leben:
„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.
Minerva VISION: Lisa, du bist 16 Jahre alt und lebtest bei deiner Mutter. Wie ist dein Verhältnis zu ihr?
Lisa: Meine Mama und ich haben uns früher echt gut verstanden. Aber seit der Trennung von meinem Papa hat sich alles verändert. Sie war oft wütend auf ihn, sagte ständig schlimme Sachen über ihn. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie redete nur noch schlecht über ihn, um mich auf ihre Seite zu ziehen.
Minerva VISION: Kannst du uns ein Beispiel geben, was sie sagte?
Lisa: Sie sagte oft: „Dein Vater ist ein Egoist. Der denkt nur an sich.“ Oder: „Der hat dich sowieso nie richtig geliebt, er wollte nur ein Kind, um besser dazustehen.“ Das tut weh. Ich meine, er ist trotzdem mein Papa. Ich liebe ihn, egal, was sie sagt.
Minerva VISION: Wie fühltest du dich, wenn deine Mutter so über ihn spricht?
Lisa: Ich fühlte mich zerrissen. Ich will, dass es Mama gut geht, ich will sie nicht verletzen. Aber ich wollte auch meinen Papa sehen dürfen, ohne dass ich mich schlecht fühle. Manchmal hatte ich richtig Angst, ihr zu sagen, dass ich ihn vermisse oder dass ich bei ihm sein will. Dann dachte ich sofort: „Jetzt wird sie wieder wütend.“
Minerva VISION: Verstehst du dich gut mit ihm?
Lisa: Ja. Bei ihm darf ich einfach ich sein. Er fragt nicht ständig, ob ich Mama lieber mag. Er sagt einfach: „Ich bin froh, dass du da bist.“ Ich möchte nicht zwischen den Stühlen sitzen. Ich versuche oft, die Stimmung nicht noch schlimmer zu machen.
Minerva VISION: Hast du darüber mit jemandem geredet?
Lisa: Ja. Ich habe irgendwann mit meiner Tante darüber gesprochen. Sie ist die Schwester meiner Mutter, und ich mag sie total gern, weil sie so ruhig ist und mir immer das Gefühl gibt, dass ich nichts falsch mache. Ich habe ihr erzählt, wie schwer es mir fällt, ständig zwischen Mama und Papa zu stehen. Und dass ich Papa lieber öfter sehen oder sogar bei ihm wohnen möchte. Sie hat mich einfach nur umarmt und gesagt: „Ach Hase. Man fühlt, was man fühlt.“ Das war das erste Mal, dass ich mich verstanden gefühlt habe.
Minerva VISION: Und wie hat deine Mutter reagiert, als sie davon erfahren hat?
Lisa: Schrecklich. Als sie gemerkt hat, dass ich mit meiner Tante gesprochen habe, ist sie komplett ausgerastet. Sie hat geschrien, ich hätte sie verraten, ich wäre undankbar, ich würde ihr „das Messer in den Rücken stoßen“. Dann hat sie gesagt, ich solle sofort meine Sachen packen und zu meinem „ach so tollen Vater“ gehen. Ich konnte es kaum glauben. Ich dachte immer, sie liebt mich, egal was passiert.
Minerva VISION: Und was hast du dann gemacht?
Lisa: Ich war total überfordert. Ich habe geheult, meine Tasche gepackt, ein paar Sachen reingeworfen. Meine Tante hat mich dann abgeholt. Ich habe jetzt erst mal bei ihr gewohnt, bis geklärt war, ob ich zu meinem Papa ziehen kann.
Minerva VISION: Wie ging es dir in dieser Zeit?
Lisa: Ich war traurig, wütend, gleichzeitig auch irgendwie erleichtert. Ich musste nicht mehr jeden Tag diesen Kampf kämpfen, Mama nicht enttäuschen, Papa nicht verstecken. Aber es war auch schwer, weil ich trotzdem gehofft habe, dass meine Mama irgendwann sagt: „Komm wieder heim, ich hab dich lieb, egal was du fühlst.“
Minerva VISION: Hast du mittlerweile bei deinem Vater ein Zuhause gefunden?
Lisa: Ja. Ich wohne jetzt bei ihm. Es ist nicht alles perfekt, ich vermisse Mama, natürlich. Aber bei Papa fühle ich mich sicherer. Er zwingt mich zu nichts, ich darf traurig sein, ich darf lachen, ich darf über Mama reden, ohne dass er wütend wird.
Minerva VISION: Was würdest du heute deiner Mutter sagen, wenn du könntest?
Lisa: Ich würde ihr sagen: „Ich liebe dich, auch wenn ich bei Papa wohne. Aber ich bin nicht deine Freundin oder deine Verbündete, ich bin dein Kind. Ich wollte nie zwischen euch stehen.“
Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:„Kinder brauchen keinen Krieg, sie brauchen Beziehung“
Wenn ich Lisas Geschichte höre, spüre ich sofort: Hier ist ein Kind in Not. Aber nicht, weil es „schwierig“ ist, sondern weil es in eine Rolle gedrängt wird, die kein Kind je übernehmen sollte.
Viele Eltern wissen nicht, dass sie ihre Kinder in einen Loyalitätskonflikt ziehen, wenn sie schlecht über den anderen Elternteil sprechen. Sie glauben, sie müssten ihre eigene Verletzung teilen, um sich selbst zu entlasten. Aber in Wirklichkeit bürden sie dem Kind eine Verantwortung auf, die es weder tragen kann noch tragen sollte.
Ein Kind ist keine emotionale Müllhalde für elterliche Enttäuschungen. Es ist auch kein Partner-Ersatz, kein Vertrauter, kein Schiedsrichter. Ein Kind ist ein eigenständiges, sensibles Wesen mit dem tiefen Wunsch, beide Eltern lieben zu dürfen. Wenn ein Elternteil ein Kind zwingt, Partei zu ergreifen, verliert dieses Kind den Zugang zu seiner eigenen Integrität. Es spaltet seine Gefühle ab, schämt sich, fühlt sich schuldig. Die Folge: Es entwickelt später Schwierigkeiten, sich selbst zu spüren und gesunde Beziehungen zu führen.
Eltern müssen sich fragen: Will ich, dass mein Kind sich selbst treu bleibt? Oder will ich, dass es mir dient und meine emotionale Leere füllt? Echte elterliche Verantwortung heißt, die eigenen Wunden selbst zu versorgen, anstatt sie dem Kind zu überlassen. Wer sein Kind wirklich liebt, gibt ihm die Freiheit, auch den anderen Elternteil zu lieben, ohne Angst vor Liebesentzug oder Vorwürfen.
Kinder brauchen Erwachsene, die klar und authentisch sind, die Konflikte zwischen Erwachsenen als das behandeln, was sie sind: Erwachsenenangelegenheiten. Es geht nicht darum, die eigenen Verletzungen zu verleugnen. Aber es ist unsere Aufgabe, diese mit Freunden, Therapeuten oder anderen Erwachsenen zu teilen, nicht mit dem Kind. Lisa hat gezeigt, wie mutig Kinder sein können, wenn sie sich selbst treu bleiben wollen. Aber es sollte niemals die Aufgabe eines Kindes sein, für seine Eltern mutig zu sein. Diese Verantwortung liegt bei uns Erwachsenen.
Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.