Meine Midlife-Crisis hatte keinen Ferrari
Hier schreibt die Ute. Über 50, mit mehr Lebenserfahrung als Faltencremes im Badezimmerschrank. Liebt Bücher, guten Rotwein und Gespräche, die auch mal wehtun dürfen. Sie hält nichts von Schönheitswahn und Fitness-Apps, aber viel von ehrlichen Worten und warmem Apfelkuchen. Mit Sahne. Und jeden Dienstag schenkt sie uns ihre Gedanken.
Neulich fragte mich meine Nachbarin: “Ute, hattest du eigentlich auch so eine Midlife-Crisis? Du weißt schon, mit Ferrari und jungem Lover?” Ich musste lachen und dachte: Wenn das eine Midlife-Crisis war, dann war es wohl die langweiligste aller Zeiten. Keine roten Sportwagen, keine Affäre mit dem Tennislehrer, kein spontaner Umzug nach Ibiza. Stattdessen stand ich eines Morgens vor dem Badezimmerspiegel, schaute mein 47-jähriges Gesicht an und dachte: “Und jetzt? Ist das schon alles gewesen?”
Der Moment der Wahrheit
Es fing ganz unspektakulär an. Ich saß in meinem Büro, es war ein grauer Dienstag im November, und plötzlich überfiel mich diese Frage: “Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?” Nicht, dass mein Job schlecht gewesen wäre. Nicht, dass mein Leben schlecht gewesen wäre. Aber es fühlte sich an wie ein zu enger Pullover, den man schon viel zu lange trägt. Bequem, vertraut, aber irgendwie… falsch. Ich hatte das gemacht, was man von mir erwartet hatte: Geheiratet, Kinder bekommen, Karriere gemacht, das Haus abbezahlt. Alles richtig gemacht, nach den Regeln gespielt. Und jetzt saß ich da und fragte mich: “Wer bin ich eigentlich, wenn ich nicht Mutter, Ehefrau, Angestellte bin?” Die Antwort: Keine Ahnung.
Das Märchen vom spektakulären Aufbruch
In Filmen sieht das immer so dramatisch aus: Die Frau um die 50 wirft alles hin, kauft sich ein Motorrad, färbt sich die Haare rot und reist durch Italien, während sie ein Tagebuch über ihre Selbstfindung führt. Schön wär’s. Meine Realität war weniger Instagram-tauglich. Ich bin nicht nach Italien gereist. Ich bin zum Supermarkt gefahren und habe im Müsliregal gestanden und mich gefragt, warum ich seit 20 Jahren dieselben Cornflakes kaufe. Nicht, weil ich sie besonders mag, sondern weil… naja, weil ich es immer so gemacht habe. Ich habe keine Affäre angefangen. Ich habe angefangen, Nein zu sagen. Zu Einladungen, die mich langweilten. Zu Verpflichtungen, die mir nichts gaben. Zu Menschen, die meine Energie raubten.
Meine Midlife-Crisis war nicht laut und spektakulär. Sie war alltagstauglich.
Ich habe aufgehört, mich für meine Meinung zu entschuldigen. Wenn mir ein Film schlecht gefallen hat, sage ich das jetzt. Früher hätte ich höflich gelächelt und “Naja, war ganz okay” gesagt. Ich habe angefangen, Kleidung zu tragen, die mir gefällt, statt die, von der ich dachte, sie wäre “altersangemessen”. Wer hat eigentlich entschieden, dass Frauen über 45 keine Jeans mehr tragen dürfen? Ich habe aufgehört, mich schlecht zu fühlen, wenn meine Wohnung nicht perfekt aufgeräumt ist. Das Leben ist zu kurz für makellose Sofakissen.
Die Panik vor der Zeit
Das Schlimmste an der Midlife-Crisis ist diese lähmende Zeitangst. Du rechnest aus: Wenn ich Glück habe, leben ich noch 30, 40 Jahre. Das klingt erst mal viel, aber dann denkst du: “Aber wie viele davon werde ich gesund verbringen? Wie viele davon werden wirklich zählen?” Plötzlich wird dir bewusst, dass die Zeit nicht unendlich ist. Dass du nicht alles nachholen kannst, was du verpasst hast. Dass manche Träume einfach zu spät kommen. Das ist gleichzeitig befreiend und erschreckend.
Was ich wirklich verpasst hatte
Es war nicht die große Liebe oder die Weltreise oder der Bestseller, den ich nie geschrieben habe. Es war viel simpler: Ich hatte mich selbst verpasst. Jahrelang hatte ich so getan, als wäre ich die Person, die andere von mir erwarteten. Die immer freundliche Kollegin. Die perfekte Mutter. Die unkomplizierte Ehefrau. Die zuverlässige Freundin. Und dabei hatte ich vergessen zu fragen: “Was will ich eigentlich? Was macht mich glücklich? Wer bin ich, wenn niemand zuschaut?” Irgendwann habe ich begriffen: Das ist nicht das Ende, das ist der Anfang der zweiten Hälfte. Und in der zweiten Hälfte gelten andere Regeln.
In der ersten Hälfte des Lebens sammelst du: Erfahrungen, Besitz, Beziehungen, Erfolge. In der zweiten Hälfte sortierst du aus: Was davon ist wirklich wichtig? Was macht mich wirklich glücklich? Das ist manchmal schmerzhaft, aber auch unglaublich befreiend.
Meine unglamouröse Transformation
Ich weiß jetzt, dass ich keine Partys mag, auf denen man Small Talk über das Wetter macht. Ich mag tiefe Gespräche bei einer Flasche Wein. Ich weiß, dass ich keine Lust mehr habe, so zu tun, als würde ich Sport lieben. Ich gehe spazieren, weil mir das reicht. Ich weiß, dass ich keine Freundschaften aus Höflichkeit führen will, sondern nur noch die, die mir wirklich etwas geben. Ich weiß, dass ich keine Angst mehr vor dem Älterwerden habe, sondern neugierig bin auf das, was noch kommt. Die Wahrheit ist: Die Midlife-Crisis ist kein Drama, das über dich hereinbricht. Es ist eine Chance zur Bestandsaufnahme. Eine Einladung, ehrlich zu dir selbst zu sein. Man muss nicht nach Italien reisen, um sich selbst zu finden. Manchmal reicht es, einen anderen Weg zur Arbeit zu nehmen und zu schauen, was passiert. Und man muss keinen Ferrari kaufen, um sich lebendig zu fühlen. Manchmal reicht es, die Musik im Auto lauter zu drehen und mitzusingen.
Ich lebe mein Leben, statt es nur zu verwalten.
Das mag nicht so aufregend klingen wie ein roter Ferrari. Aber es ist gut für mich. Und ich bin nunmal mein Maßstab.
Die Ute vom Dienstag
P.S.: Übrigens habe ich neulich doch noch etwas “Verrücktes” gemacht: Ich habe mir die Haare abgeschnitten. Kurz. Meine Friseurin fragte dreimal nach, ob ich sicher bin. Bin ich. Zum ersten Mal seit langem bin ich mir in vielen Dingen sehr sicher.




