Leben mit MS: Eine Erfolgsgeschichte
Peters Geschichte eignet sich gut, um denen etwas Mut zu machen, die vielleicht noch verunsichert und orientierungslos nach ihrer MS-Diagnose sind.
“Bei mir ist die Diagnose jetzt 15 Jahre her. Ich war 26 und wachte Sonntagmorgens, nach einer Einweihungsparty, bei einem Kumpel auf, mit merkwürdigen Spastiken in einem Arm. Alle paar Minuten fühle ich mich gezwungen, mich zu strecken, also den Arm möglichst lang zu machen. Es fühlte sich ein bisschen an wie beim Gähnen, man könnte es halbwegs unterdrücken, aber es muss einfach getan werden.
Am nächsten Morgen, dem Montag, ging ich dann direkt zu meinem Hausarzt und der hatte dann, zum Glück, direkt den richtigen Riecher. Er überwies mich in die Uniklinik, in der ein MRT gemacht werden sollte.
Mit der Aussage: „Das ist etwas neurologisches, wahrscheinlich Multiple Sklerose“, wurde ich weiter in die neurologische Abteilung einer Klinik überwiesen. Dort angekommen kam ich in ein Zweibettzimmer mit einem Zimmernachbarn, der mir, noch bevor ich nun meine Diagnose erhalten hatte, erzählte, dass ich jetzt im Prinzip auf die Frührente zugehe. Er meinte: „Autofahren und körperliches Arbeiten ist bald nicht mehr möglich“, was mich als Oldtimer- und Hobbyrestaurator natürlich schockierte.
Die Restaurierung meines Traumautos, eines T2 Bulli war grade erst im Vorjahr fertig geworden, der 65er Käfer meiner Freundin war noch mittendrin und ich hatte grade ein weiteres meiner Traumautos (einen 1973er Alfa Bertone) in einer Halle gefunden, und zum Aufbereiten zu mir geholt.
Und jetzt sollte ich das alles aufgeben?
Auch unser Traum, ein altes Haus zu kaufen und nach unseren Wünschen zu sanieren und umzubauen, schien in weite Ferne zu rutschen. Zum Glück wurde ich von den behandelnden Ärztinnen und Ärzten wirklich gut aufgefangen und neben der üblichen Diagnostik (Lumbalpunktion etc.) und Behandlung (die tägliche Cortison-Infusion) hatte ich auch einige Gespräche mit den Ärzten, die mir viele Ängste wieder nehmen konnten. Wir haben viel zurückgeschaut und festgestellt, dass ich vermutlich schon in den vergangenen drei Jahren immer wieder Schübe hatte, die von selbst abgeklungen waren.
Nach einer guten Woche Kortisontherapie waren alle Beschwerden weg und ich bekam das „Go“, ein paar Tage später wieder nach Hause zu fahren. Dort sollte ich mich dann noch eine Woche erholen, und die Füße hochlegen. Da mir das aber schon immer eher schwergefallen ist, habe ich nach zwei bis drei Tagen den Alfa aus der Schrauber-Halle, die zum Glück nebenan stand, gerollt, und angefangen, den stumpfen Lack aufzubereiten. Solche Arbeiten sind eher meditativ als anstrengend, und am Ende meiner Krankschreibung war nicht nur der Lack poliert, auch der Motor lief wieder vernünftig und der Alfa hatte seine erste Proberunde durchs Dorf gedreht.
Dann ging der typische Weg los.
Neurologische Praxis suchen, Therapie abstimmen etc. Ich entschied mich für die Therapie mit Avonex, musste mir also einmal die Woche selbst eine Spritze in den Oberschenkel geben. Die Nebenwirkungen waren mit einer Paracetamoltablette problemlos in den Griff zu kriegen, aber das Spritzen war mir wirklich lästig.
Ich machte mir in der nächsten Zeit einige Gedanken, ob ich jetzt meine Zukunftspläne anpassen sollte, kam aber zu dem Ergebnis, dass man bei MS einfach nicht sicher sagen kann, wie sie sich entwickeln wird, und ich mich nicht von der Angst vor dem, was kommen könnte, einengen lassen will. Einzig der Fakt, dass ich die Zeit, in der es mir gut geht, nutzen und genießen möchte, und daher eher im Hier und Jetzt leben will, ist ein Umstand, zu dem mich die MS gedrängt hat. Also beschlossen wir, nicht mehr alles aufzuschieben und ungefähr ein Jahr nach der Diagnose wurde ich das erste Mal Vater.
Als meine Tochter ein Jahr alt wurde, begann meine Elternzeit.
Also schnappten wir uns den Bulli und haben eine gut 7000 km lange Tour durch Mitteleuropa gemacht.
Wir fuhren ohne nennenswerte Probleme aus Kiel über Hannover und Gießen nach Süden, über die Alpen an den Gardasee, weiter ans Mittelmeer und über Carcassonne in die Pyrenäen, von da aus weiter zur Dune du Pilat und zur Île Madame. Da, wo es schön war, blieben wir, bis das nächste Ziel zu sehr reizte. Kein Stress, alles entspannt und die MS rief sich nur bei der wöchentlichen Spritze in Erinnerung.
Ein paar Monate später haben wir uns dann entschlossen, unseren Traum vom eigenen Haus anzugehen. Da aber Null Ersparnisse, ein eher durchschnittliches Einkommen und Wünsche wie Baujahr vor 1930, hohe Decken, großer Garten, maximal 10 km um Kiel Zentrum, etc. nicht so einfach zusammenpassten, zog sich das Ganze etwas. Und zack, war schon das zweite Kind auf der Zielgeraden und wir wohnten immer noch in unserer kleinen Dachgeschosswohnung. Zum Glück fanden wir dann doch noch ein Haus, das nahezu alle unsere Wünsche erfüllte, für uns bezahlbar war, aber auch sehr viel Arbeit bereithielt.
Wir sanierten uns dann in den kommenden Jahren fleißig von Geschoss zu Geschoss durch das Haus, und die MS war irgendwie fast vergessen. Bis, drei Jahre nach dem Kauf, plötzlich Empfindungsstörungen an den Oberschenkeln und Füßen auftraten. Da nicht klar war, ob das jetzt von der MS oder von einem eingeklemmten Nerv kommt, bekam ich direkt Physiotherapie verschrieben und als dann endlich der MRT-Termin anstand, waren die Beschwerden schon wieder abgeklungen. Da aber neue Herde zu sehen waren, entschied ich mich dazu, die Therapie zu wechseln und nehme seitdem Tecfidera, also zweimal täglich eine Tablette.
In den folgenden Jahren hatte ich dann keine Beschwerden mehr; wir haben geheiratet, und der Käfer meiner Frau wurde sogar rechtzeitig fertig, da er Hochzeitsauto werden sollte. Ich baute mir eine kleine Werkstatt, um an meinen Autos zu schrauben, restaurierte da drin aber die ersten Jahre erst mal einen T2 Bulli für einen Kumpel. Dann erbte ich einen 50 Jahre alten Trecker von meinem Opa, machte den bei ihm auf dem Hof wieder TÜV fertig und fuhr ihn gute 100 km zu mir nach Hause, wo er seitdem auf seine Restaurierung wartet.
Während die Welt von der Coronawelle in Atem gehalten wurde, schlug bei uns der Krebs zu, meine Frau kämpfte sich durch die Chemo, die Kinder waren tapfer und mittlerweile ist auch das irgendwie schon wieder fast vergessen.
Zeit also, mal wieder ein größeres Projekt anzugehen.
Unsere Gasheizung war schon mehr als nur in die Jahre gekommen und ich wollte schon lange weg vom fossilen Heizen, also plante ich eine Erdwärmeheizung und, weil es einfach Sinn macht, noch eine PV-Anlage dazu, na ja, und eine energetische Sanierung vom Erdgeschoss war dann auch angeraten, und mit PV-Anlage machte dann ein E-Auto plötzlich Sinn für mich.
Dieser Rattenschwanz führte dann nicht nur zu sehr viel Arbeit, sondern auch zu einer Menge Stress, der nicht ganz spurlos an mir vorüberging.
Als die Arbeiten fast abgeschlossen waren, bekam ich muskuläre Verhärtungen im Rückenbereich, die dazu führten, dass ich nur noch mit einem Wärmegurt nach draußen gehen konnte. Mit Physiotherapie ließ sich das zwar kurzfristig lockern, aber wirklich besser wurde es erst, als auch der Stress abgeklungen war. Jetzt, wo das Projekt erledigt ist, bin ich wieder beschwerdefrei und freue mich, auch das geschafft zu haben. Allerdings bin ich auch um die Erkenntnis reicher, dass ich es nächstes Mal vielleicht nicht ganz so ausarten lassen sollte.
Nun ist meine Diagnose also 15 Jahre her, und ich kann rückblickend einfach nur sehr, sehr dankbar dafür sein, wie es gelaufen ist.
Damals habe ich nur Geschichten von Leuten gefunden, die einen eher schweren Verlauf hatten, was mir schon sehr viele Sorgen bereitet hat und mir fast den Mut genommen hätte, einfach auf das Glück zu hoffen.
Aber es ist doch nicht anders als sonst im Leben: Du hast einfach keine Garantie, was die Zukunft bringen wird. Also genieße das, was du jetzt hast und lass dich nicht von den Sorgen der Zukunft unterkriegen.”
Aus: Irene Sybertz: Spring, damit du fliegen kannst.
Minerva Verlag
Maße: 17 x 24 cm, 180 Seiten.
Weitere Infos: www.ms-buch.de