
„Ich mag sie einfach nicht!“
Über Ehrlichkeit, Bauchgefühl und das Recht, nicht mit jedem befreundet sein zu wollen
„Mama, ich mag die Leni einfach nicht.“
Sophie steht mit verschränkten Armen vor mir. Die Schuhe noch voller Sand, der Tonfall trotzig, fast angriffslustig. Ich öffne den Mund, um etwas Pädagogisches zu sagen – irgendwas mit „man muss auch nett sein zu allen“ oder „du musst sie ja nicht heiraten, aber wenigstens mit ihr spielen“. Aber ich schlucke die Worte runter. Denn ich weiß genau, was jetzt kommen würde: Widerstand. Noch mehr Trotz. Und vor allem: das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Ich erinnere mich an die letzte Kita-Feier. Wie Leni ungefragt Sophies gebastelte Laterne kommentierte („Die sieht komisch aus.“). Wie sie später das Radiergummi klaute. Wie Sophie kleinlaut zu mir kam und flüsterte: „Ich will da nicht mehr hin.“ Und ich? Hab versucht, sie zu überreden. „Ach, komm, sei doch großzügig.“ Heute spüre ich: Vielleicht war das ein Fehler.
Wir wollen, dass unsere Kinder freundlich sind. Und beliebt.
Am liebsten beides. Wir erklären, wie man sich entschuldigt. Dass man jedem eine Chance geben soll. Dass es wichtig ist, sich in andere hineinzuversetzen. Und das ist auch richtig so – solange wir nicht aus den Augen verlieren, dass unsere Kinder ein feines Bauchgefühl haben. Wenn ein Kind sagt „Ich mag sie nicht“, dann meint es meist nicht „Ich hasse sie“, sondern: „Ich fühle mich nicht wohl mit ihr.“ Und das verdient Gehör.
Nicht jede Begegnung muss in Freundschaft enden
Manchmal ist da einfach kein Draht. Kein gutes Gefühl. Oder schlicht: zu viel Konkurrenz. Und ja – manchmal liegt es an der Dynamik zwischen zwei Kindern. Manchmal aber auch an dem, was wir Erwachsenen daraus machen. Wenn wir jedes “Ich mag sie nicht” automatisch in ein Erziehungsproblem verwandeln, schicken wir eine klare Botschaft: Dein Gefühl zählt nicht. Deine Grenze ist falsch. Dabei ist genau das Gegenteil wichtig. Denn nur wer lernt, kleine Grenzen zu spüren und zu achten, kann später auch größere ziehen – im Job, in Beziehungen, im Leben.
Der Unterschied zwischen Antipathie und Respektlosigkeit
Jemanden nicht zu mögen bedeutet nicht automatisch, unfreundlich oder verletzend zu werden. Hier liegt der entscheidende Punkt, den wir unseren Kindern vermitteln können: Du darfst deine Gefühle haben, aber du entscheidest, wie du damit umgehst. Ein Kind kann ein anderes nicht mögen und trotzdem höflich zu ihr sein. Es kann Distanz halten, ohne sie zu mobben. Es kann „Nein” zu ihrer Geburtstagsparty sagen, ohne sie zu verletzen. Diese Unterscheidung zu treffen ist eine wichtige Lebenskompetenz.
Was wir stattdessen sagen können
- „Danke, dass du mir das sagst. Magst du mir erklären, warum du dich mit ihr unwohl fühlst?“
- „Es ist okay, jemanden nicht zu mögen – aber wir bleiben trotzdem respektvoll.“
- „Du musst nicht mit jedem spielen. Aber du darfst niemanden absichtlich ausschließen.“
Freundschaft ist kein Zwang – sondern ein Geschenk
Und Geschenke kann man nicht einfordern. Sie entstehen – oder eben nicht. Und wenn unsere Kinder das spüren, dann dürfen sie auch sagen, was sie fühlen. Ohne Etikett, ohne Urteil.
Ich sehe Sophie an diesem Abend an und sage nur:
„Okay. Du musst nicht mit Leni spielen.“
Sie schaut mich überrascht an. Dann nickt sie langsam.
Und ich? Ich atme tief durch. Denn gerade lernt sie etwas Großes:
dass man freundlich sein kann – und sich trotzdem abgrenzen darf.
Drei Dinge, die du deinem Kind sagen kannst, wenn es jemanden nicht mag
- „Du darfst spüren, was du spürst.“
Gefühle sind nie falsch – sie sind Hinweise. Dein Kind lernt, sich selbst zu vertrauen. - „Du musst nicht mit allen befreundet sein, aber du darfst niemanden verletzen.“
Eine liebevolle Grenze – auch in der Ablehnung. - „Manchmal passen Menschen einfach nicht zusammen – und das ist völlig in Ordnung.“
Freundschaft ist kein Pflichtprogramm.
Der Kommentar von Ingrid, Erzieherin im KiGa: Ein Kind, das sagt: ‘Ich mag sie nicht’, ist kein schlechter Mensch. Es ist ein ehrlicher Mensch.
Als ich diesen Artikel lese, denke ich an unzählige Gespräche mit Eltern, die verzweifelt fragen: ‚Warum ist mein Kind so wählerisch mit Freunden?’ Die Antwort ist einfach: Weil es gesund ist. Kinder sind von Natur aus authentisch in ihren Beziehungen. Sie mögen oder mögen nicht – ohne komplizierte Hintergedanken, ohne soziale Masken. Diese Ehrlichkeit ist ein Geschenk, das wir oft zerstören, weil wir Angst vor den Reaktionen anderer haben.
In meiner Arbeit erlebe ich immer wieder: Die Kinder, die früh lernen dürfen ‚Nein’ zu sagen, sind später die selbstbewussten Teenager, die nicht jedem Gruppendruck nachgeben. Die Kinder, die ihre Antipathien artikulieren dürfen, werden zu Erwachsenen, die toxische Beziehungen erkennen und verlassen können. Wenn ein fünfjähriges Kind sagt ‚Ich will nicht mit Max spielen, der ist so laut’, dann ist das keine Charakterschwäche. Es ist eine wichtige Information über die eigenen Bedürfnisse. Max mag ein wunderbares Kind sein – aber vielleicht braucht dieses Kind eben ruhigere Spielpartner.
Unsere Aufgabe als Erwachsene ist nicht, aus jedem Kind einen ‚Menschen-Gefaller’ zu machen. Unsere Aufgabe ist es, ihnen beizubringen, wie sie respektvoll mit ihren authentischen Gefühlen umgehen können. Das bedeutet: Ja, du darfst Leni nicht mögen. Nein, du darfst sie deshalb nicht ausschließen oder verletzen. Ja, du kannst höflich Abstand halten. Nein, du musst nicht zu ihrer Party gehen.
Diese Unterscheidung zu lernen ist eine der wichtigsten Lektionen fürs Leben. Denn nur wer weiß, was er nicht will, kann herausfinden, was er wirklich will.