Familie

Gentle Parenting

Bedürfnisorientierte Erziehung bringt Kind und Eltern ins Gleichgewicht

Ein ganz normaler Morgen. Marie steht in der Küche, noch im Schlafanzug, der Kaffee ist kalt geworden. Ihr dreijähriger Sohn Ben liegt schreiend auf dem Boden, weil der rote Becher in der Spülmaschine ist. Marie spürt, wie ihr Herzschlag schneller wird, ihre Nerven flattern. Sie hat kaum geschlafen, das Meeting beginnt in 20 Minuten. In ihrem Kopf hämmert ein Satz: „Reagier ruhig. Sei sanft. Sei freundlich.“ Doch innerlich brodelt es. Sie beugt sich hinunter, atmet durch und dann bricht es aus ihr heraus: „Ich versteh dich ja. Aber ich kann gerade nicht mehr.“

Ein Moment, der vielen Eltern vertraut ist. Und ein Moment, der zeigt: Gentle Parenting ist nicht immer sanft. Sondern menschlich, herausfordernd und zutiefst ehrlich.

Was ist Gentle Parenting wirklich?

Gentle Parenting – oder sanfte Erziehung – ist kein Idealbild, in dem alle Konflikte leise und liebevoll gelöst werden. Es ist eine Haltung, die davon ausgeht, dass Kinder nicht gehorchen müssen, sondern lernen dürfen. Dass sie keine kleinen Tyrannen sind, sondern Menschen in der Entwicklung.

Die vier zentralen Werte dieser Haltung, geprägt von Sarah Ockwell-Smith, sind:

  • Empathie
  • Verständnis
  • Respekt
  • gesunde Grenzen

Es geht darum, das Verhalten des Kindes nicht zu bewerten, sondern zu begreifen – als Ausdruck eines inneren Zustands. Gentle Parenting bedeutet: Ich sehe dich – mit deinen Gefühlen, auch den schwierigen.

Bedürfnisorientierung: Zwischen Kind und Eltern die Balance halten

Der Satz „Hinter jedem Verhalten steckt ein Bedürfnis“ ist das Herzstück bedürfnisorientierter Erziehung. Wenn ein Kind trotzt, klammert oder scheinbar „nervt“, will es nicht manipulieren – es versucht zu kommunizieren. Doch das bedeutet nicht, dass Eltern immer verfügbar sein müssen. Bedürfnisorientiert heißt auch: Meine Bedürfnisse zählen ebenso. Sanfte Erziehung heißt nicht Selbstaufgabe. Sie bedeutet Verantwortung – für beide Seiten.

Warum Gentle Parenting erschöpfen kann

Immer mehr Eltern berichten: Es ist zu viel. Ich bin zu oft zu müde. Ich kann nicht mehr zuhören, erklären, halten. Und sie haben recht. Gentle Parenting fordert emotionale Präsenz. Und oft trifft dieser Anspruch auf Eltern, die selbst mit ungelösten Kindheitsmustern kämpfen. Wer als Kind nicht gehalten wurde, erlebt die emotionale Begleitung des eigenen Kindes als tief fordernd.


Weitere Themen:

Gentle Parenting ist keine Technik. Es ist ein Spiegel. Es konfrontiert uns mit unserem eigenen inneren Kind, mit Wut, Ohnmacht, alten Verletzungen. Und mit der Frage: Kann ich mir selbst geben, was ich meinem Kind geben will?

Die Schattenseite

Was gut gemeint ist, kann zum neuen Druck werden. Sanft zu sein wird zur Pflicht. Jedes Meckern zum Makel. Jedes Nein zum Trauma. Doch so funktioniert Bindung nicht. Kinder brauchen keine Eltern, die immer ruhig bleiben, sondern Eltern, die wieder in Beziehung gehen können. Die sich entschuldigen. Die erklären. Die zeigen: Auch ich bin lernend. Auch ich bin Mensch. Emotionale Verfügbarkeit, nicht pädagogische Fehlerfreiheit, prägt unsere Kinder. Wer bereit ist, sich zu regulieren, bevor er reguliert, baut Beziehung. Und diese Beziehung ist das Fundament für Selbstwert, Resilienz und Vertrauen.

Sanfte Erziehung ist radikal ehrlich

Marie, die Mutter von Ben, entschuldigte sich später bei ihrem Sohn: „Ich war überfordert. Es tut mir leid, dass ich laut wurde.“ Ben schaute sie an, kletterte auf ihren Schoß und sagte: „Ich wollte nur den roten Becher.“ Ein kleiner Moment. Und ein großer. Gentle Parenting zeigt sich nicht in der Lautstärke unserer Stimme, sondern in der Tiefe unserer Beziehung. Es braucht Mut, sich selbst zu begegnen und Milde, wenn es nicht gelingt.

Der Kommentar von Tessa, Mutter von Ben:

Ich wollte ja eine Gentle-Parenting-Mutter sein. So eine, die nie schreit. Die bei Trotzanfällen nicht zusammenzuckt, sondern verständnisvoll nickt. Die ihrem Kind auf Augenhöhe begegnet, es liebevoll begleitet, jedes Bedürfnis erspürt – am besten schon bevor es auftritt. Ich habe Bücher gelesen, Podcasts gehört, mir Zitate auf T-Shirts drucken lassen.

Und dann kam das Leben.

Genauer: Dann kam mein Sohn. Mit 39,8 Fieber, einer Vorliebe für Haferflocken auf frisch gewaschener Wäsche und dem Bedürfnis, immer genau den Löffel zu wollen, der gerade in der Spülmaschine ist. Ich habe mich bemüht. Ich habe in der Hocke gesprochen und Sätze gesagt wie: „Ich sehe deine Wut und halte sie mit dir aus.“ (Obwohl ich eigentlich dachte: Ich halte es nicht mehr aus!)

Und wisst ihr was? Manchmal klappt’s. Manchmal nicht. Manchmal bin ich die verständnisvolle Mutter, die mit ruhiger Stimme erklärt, dass auch andere Becher schöne Becher sind. Und manchmal bin ich einfach eine übermüdete Frau mit Schokolade im BH und Tränen in den Augen, die „JETZT NICHT!!!“ ruft.

Gentle Parenting ist schön. Aber es ist auch verdammt anstrengend. Weil es uns Eltern verlangt, bessere Menschen zu sein, während wir gleichzeitig auch einfach nur Menschen sind. Mit eigenen Bedürfnissen, Triggern, altem Kram aus der Kindheit und einem Wäscheberg, der nie kleiner wird.

Also bin ich inzwischen sanft. Vor allem mit mir selbst. Ich entschuldige mich, wenn ich laut war. Ich kuschle extra lange, wenn ich überreagiert habe. Ich bin nicht perfekt. Aber ich bin bemüht. Und ehrlich. Und das, glaube ich, ist vielleicht das gentlest, was ich tun kann.

Kommentar von Anna H., Erzieherin in einer städtischen Kita: „Wie viel Sanftheit hält der Alltag aus?“

Ich arbeite seit fast 20 Jahren in einer Kindertagesstätte. Ich habe schon alles gesehen: Kinder, die um 8 Uhr mit der Zahnbürste in der Hand in die Gruppe kommen. Kinder, die kaum sprechen, aber jedes Gefühl tanzen können. Kinder, die fünf Sprachen durcheinander murmeln – und Kinder, die morgens einfach nur ihre Mama zurückwollen. Und immer öfter begegnet mir dieses Wort: „bedürfnisorientiert“.

Ich verstehe, warum Eltern diesen Weg wählen. Und ich unterstütze das sehr. Wirklich. Aber ich sage auch: Bedürfnisorientierung hört nicht bei den Kindern auf. Sie fängt bei uns allen an, auch bei mir, bei meinen Kolleginnen, bei den Eltern. Denn wie soll ich einem Kind in der Trotzphase sanft begegnen, wenn ich seit fünf Stunden nicht auf die Toilette konnte, weil ein anderes Kind gerade nicht loslassen will?

Bedürfnisorientierung ohne Struktur wird schnell Chaos. Struktur ohne Beziehung wird Kontrolle. Was wir in der Kita versuchen, ist eine Balance: Wir sehen das Kind. Aber wir sagen auch Nein. Wenn ein Kind sich auf den Boden wirft, weil es nicht zuerst den roten Bobbycar bekommt, helfen keine Grundsatzdebatten über Gerechtigkeit. Gentle Parenting, das ist wunderschön. Aber manchmal kommt das Kind dann zu uns und kann mit Grenzen nichts anfangen. Es erwartet, dass jedes „Nein“ verhandelbar ist. Und dass jeder Wunsch ein Bedürfnis ist.

Teilen