
Erziehung: Wenn der Löwe brüllt!
Wege aus der Wutfalle
Neulich fragte mich meine Schwester: „Jonas, ist es normal, dass ich mein Kind manchmal an die Wand klatschen könnte?“
Ich musste lachen. Nicht, weil ich Gewalt in irgendeiner Form witzig finde, sondern weil ich dachte: Ach, wie schön ehrlich! Früher dachte ich immer, Engel haben Flügel. Heute weiß ich: Engel haben oft Jogginghose, Augenringe und ein Kind, das sich gerade brüllend auf den Boden wirft, weil die Banane „falsch geschält“ wurde. Wir glauben immer, wir müssten perfekte Eltern sein, geduldig, liebevoll, immer verständnisvoll. Aber Perfektion ist wie Einhörner: schön in der Vorstellung, selten in freier Wildbahn.
Wut gehört zum Menschsein
Wir alle sind manchmal wütend. Auf den Stau. Auf das Wetter. Auf die Politik. Auf den Partner. Aber die größte Wut entfachen meistens… die kleinsten Menschen. Wenn dein Kind zum fünften Mal in einer Stunde schreit: „Ich will aber nicht!“, wenn der Brokkoli wie ein Mordanschlag behandelt wird oder die Schuhe auf magische Weise verschwunden sind, während du eh schon zu spät dran bist, dann fühlst du dich wie ein Schnellkochtopf ohne Ventil.
Warum wir denken, wir müssten immer Geduld haben
Wir glauben oft, wir müssten als Eltern unerschütterlich gelassen sein. Zen-artig. Lächelnd durch die Spielzeuglawine waten. Aber wir sind keine Mönche im Himalaya. Wir sind Menschen mit Nerven, Hormonen und Schlafmangel. Und das ist gut so. Denn Wut ist ein Gefühl. Kein Charakterfehler, keine Sünde, sondern ein Signal: „Achtung, hier stimmt etwas nicht!“
Die Geschichte mit dem Löwen
Einer meiner Professoren erzählte oft vom Löwen, der brüllt, wenn jemand seine Grenzen überschreitet. Und was aus einem Löwen wird, der nie brüllt. Er wird irgendwann krank. Unsere Wut ist unser Löwe. Sie zeigt, wo unsere Grenzen liegen. Nur wir sollten lernen, sie nicht direkt auf unsere Kinder zu richten. Denn die haben gerade selbst genug damit zu tun, herauszufinden, wie man ohne Schuhe die Welt regiert.
Was passiert bei Wut im Gehirn?
Wenn wir wütend werden, übernimmt das limbische System die Regie, genauer gesagt die Amygdala, unser „Gefahrenradar“. Sie bewertet blitzschnell: „Achtung, Angriff! Reagieren!“ Dabei schaltet sich der präfrontale Kortex (der Teil des Gehirns, der für Vernunft, Reflexion und Selbstkontrolle zuständig ist) quasi ab. Die Folge: Wir handeln impulsiv, brüllen, schimpfen, knallen Türen.
Wie kommt man da schnell wieder raus?
Die gute Nachricht: Das Gehirn ist trainierbar. Hier die drei wichtigsten Sofortstrategien aus der Neuropsychologie:
1. Atmen – wirklich!
Ja, klingt simpel, aber funktioniert tatsächlich. Warum? Langsames, bewusstes Atmen aktiviert den Parasympathikus, unser „Beruhigungsnerv“, und dämpft die Alarmreaktion der Amygdala.
Tipp:
- 4 Sekunden einatmen
- 6 Sekunden ausatmen
- Das Ganze mindestens fünfmal wiederholen.
Schon nach ein paar Atemzügen werden Stresshormone reduziert und der präfrontale Kortex schaltet sich wieder ein.
2. Bewegung (z. B. kurz rausgehen)
Warum? Körperliche Bewegung baut Adrenalin ab. Gleichzeitig wird der Kopf durchblutet, die Spannung sinkt.
Ein paar Schritte durch die Wohnung, aus dem Zimmer gehen oder einfach Arme schütteln. Hauptsache, der Körper kommt aus der Starre.
3. Den Fokus wechseln
Warum? Wenn wir auf das „Problem“ starren (z. B. das Kind, das schon wieder trödelt), bleibt die Amygdala aktiv.
Strategie:
- Den Blick in den Himmel richten
- Ein Bild an der Wand betrachten
- An einen Ort denken, an dem man sich sicher fühlt
So lenken wir die Aufmerksamkeit bewusst um und geben dem präfrontalen Kortex die Chance, wieder „mitzureden“.
Was langfristig hilft?
- Achtsamkeit trainieren (z. B. Meditation oder Body-Scan): So werden wir generell weniger „zündfähig“.
- Humor: Lachen reduziert Stresshormone, stärkt das Immunsystem und verbindet. Und mal ehrlich: Vieles, worüber wir wütend werden, wirkt mit ein paar Stunden Abstand fast komisch.
- Selbstfürsorge: Genug Schlaf, Pausen und eigene Bedürfnisse ernst nehmen. Ein leerer Akku explodiert schneller.
Es ist, wie es ist
Wir alle sind wandelnde Widersprüche. Wir lieben unsere Kinder über alles — und können sie manchmal kaum ertragen. Diese Spannung auszuhalten, das ist das wahre Abenteuer der Elternschaft.
Und du?
Wann hast du das letzte Mal so richtig laut gebrüllt? Was hat dir geholfen, wieder zu dir zu finden? Schreib es uns, schick uns ein Bild deiner Löwen-Momente oder teil deine Lieblingsstrategien auf www.minervavision.de.
Denn am Ende gilt: Wer über sich selbst lachen kann, hat die beste Stressresistenz der Welt.