Liebe

Du fühlst für alle – aber nicht für dich selbst

Die Angst vor dem Nichts in dir

Lena kam mit einem Anliegen, das auf den ersten Blick unscheinbar klang. „Ich würde gern lernen, besser Grenzen zu setzen. Ich sage zu oft Ja, obwohl ich Nein meine.“ Sie war 39, Sozialarbeiterin, zwei Kinder, verheiratet, engagiert. Eine Frau, die andere trug. Die verstand, bevor jemand etwas sagen musste. Die in Räumen spürte, wenn etwas nicht stimmte – noch bevor es ausgesprochen war.

Schon in der ersten Sitzung wurde klar: Lena hatte ein feines Gespür für andere. Aber keins für sich selbst. „Ich spüre sofort, wenn mein Mann gestresst ist. Ich merke, wenn meine Tochter traurig ist, obwohl sie lacht. Ich kriege im Team jede Unstimmigkeit mit – noch bevor sie explodiert.“ „Aber wenn mich jemand fragt, wie es mir geht…“ – sie stockte –, „…dann weiß ich es nicht.“ Lena war nicht distanziert. Sie war nicht unterkühlt. Sie war voller Gefühl – nur eben für die anderen. Nie für sich.


Ein Leben für die anderen

Lena beschrieb ihre Kindheit wie aus einem Lehrbuch für emotionale Überforderung: „Meine Mutter war oft überfordert – ich wusste das, auch wenn sie es nie gesagt hat. Ich habe gelernt, die Stimmung zu retten, bevor es knallt. Ich war das Kind, das die kleine Schwester tröstet, wenn Mama weint. Ich habe gespürt, was gebraucht wird – lange bevor jemand es aussprach.“

Lena hatte früh gelernt: „Gefühle sind nur dann wertvoll, wenn du sie für andere einsetzt, um Gefahren abzuwenden. Wenn du das nicht machst, knallt es“. Also wurde sie zur Gefühlszentrale der Familie. Zur Vermittlerin. Zum Puffer. Zum stillen Systemerhalter. Als ich sie zur Beginn der dritten Stunde fragte, wie es ihr geht, sagte sie spontan: „Ich spüre eigentlich – gar nichts. Ich kann nur sagen, wie du dich gerade fühlst.“ Das war eine Erkenntnis.


Weitere Themen:

Test: Woran du merkst, dass du andere zuviel und dich zuwenig spürst:

Kreuze an, was gerade auf dich zutrifft:

  1. ☐ Ich merke sofort, wenn jemand im Raum schlechte Laune hat.
  2. ☐ Wenn ich gefragt werde, wie es mir geht, weiß ich oft keine ehrliche Antwort.
  3. ☐ Ich höre zwischen den Zeilen – aber bei mir selbst höre ich oft weg.
  4. ☐ Ich sage schnell Ja, obwohl ich innerlich zögere.
  5. ☐ Ich fühle mich für die Stimmung anderer mitverantwortlich.
  6. ☐ Ich kann anderen gut helfen, trösten, verstehen – aber ich tue das selten für mich.
  7. ☐ Ich vergesse mich selbst, wenn ich emotional gefordert werde.
  8. ☐ Ich finde es schwer, meine eigenen Bedürfnisse zu formulieren.
  9. ☐ Ich spüre oft erst im Nachhinein, wie sehr mich etwas belastet hat.
  10. ☐ Ich funktioniere gut – aber ich weiß manchmal nicht, ob ich wirklich lebe.


Auswertung

0–3 Kreuze
Du scheinst einen guten Kontakt zu dir selbst zu haben – oder beginnst gerade, ihn wieder zu entdecken. Mach weiter. Frag dich ruhig öfter: „Was brauche ich – wirklich?“

4–7 Kreuze
Du bist sehr feinfühlig – aber diese Feinfühligkeit fließt oft mehr nach außen als nach innen. Vielleicht ist es an der Zeit, dich selbst so wichtig zu nehmen, wie du es bei anderen tust.

8–10 Kreuze
Du hast gelernt, dich selbst zurückzustellen – vielleicht aus Liebe, vielleicht aus Angst.
Aber heute darfst du umdenken:

Zum Weiterlesen: “Aschenkind” von Livia Brand. Viele Kinder narzisstischer Mütter wachsen äußerlich „gut“ auf. Sie sind gepflegt. Werden pünktlich zur Schule gebracht. Haben eine Brotdose mit geschnittenem Obst. Was fehlt, ist nicht das Sichtbare – es fehlt das Gesehenwerden. Betroffene wissen im Inneren, dass etwas nicht stimmt, haben aber keine Worte dafür. Ein Selbsthilfe-Ratgeber für alle, die glauben, nicht richtig zu sein. Es kann sein, dass die Ursache gar nicht in dir liegt.

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