Der Horror-Trip
Mein Leben mit MS:
Hallo und herzlich willkommen bei MS-Voices! Ich bin Irene, und hier dreht sich alles um das Leben mit Multipler Sklerose (MS). Als ich vor einigen Jahren die Diagnose erhielt, hat sich mein Alltag auf den Kopf gestellt – und ich war plötzlich mit unzähligen Fragen, Ängsten und Herausforderungen konfrontiert. In diesem Blog möchte ich meine persönlichen Erfahrungen mit euch teilen und Menschen eine Stimme geben, die unter MS leiden. Wie ist das wirklich, mit MS zu leben? Wie verändert es den Alltag, die Beziehungen und die Zukunftsplanung? Hier gibt es ehrliche Einblicke, praktische Tipps und die ein oder andere Anekdote aus meinem Leben – direkt aus dem Herzen einer Betroffenen.
Wenn der Quartalstermin beim Neurologen zum Horror-Trip wird
Nein, nicht falsch verstehen. Nicht der Termin selbst ist Horror. Er ist Rückmeldung für meinen Neurologen und Gelegenheit für mich, ihm neu aufgetretene Symptome mitzuteilen, Dinge, die besser geworden sind, oder auch schlechter. Genauso die Info zu Medikamenten, die ich (außer der Haupt-Therapie) nehme, sind wichtig. Sowohl für ihn als auch für mich. Und grundsätzlich gilt glücklicherweise, für ihn, als auch für mich: Je weniger, desto besser.
Ich habe schon einige Medikamente durch
Ich habe eine ganze Weile das Medikament Fampyra genommen. Ein Medikament, das eingesetzt wird, um das Laufen zu verbessern. Es hat auch tatsächlich gewirkt. Ich konnte darunter besser laufen und meine Gehstrecke erweitern. Soweit so gut. Man muss es allerdings alle 12 Stunden nehmen, damit es vollumfänglich wirkt. Ich hatte das mal, aus welchen Gründen auch immer (ich kann das heute nicht mehr nachvollziehen warum) vergessen zu nehmen. Nach ein paar Tagen fiel mir auf, dass sich ohne dieses Medikament nichts an meinem Laufverhalten geändert hat. Es ging noch genauso gut, in meinen Augen und für meine Verhältnisse, wie mit diesem Medikament! Und das hat mich veranlasst zu testen: Ich habe das Medikament für die folgenden vier Wochen wieder streng nach Vorschrift genommen. Geändert hat sich an meinem Laufverhalten: Richtig. Nichts. Für mich der Moment der Erkenntnis, dass es eben gute und schlechtere Tage gibt, die mein Laufverhalten und die Gehstrecke verringern. Und da ich das akzeptiert habe, flog dieses Fampyra in Absprache mit meinem Neurologen, aus meiner Medikamentenliste. Aber ich wusste von Anfang an, dass das passieren könnte oder würde, denn Fampyra wirkt mit einer Chance von 50 : 50. Jedem zweiten Patienten hilft es und das ist großartig!
Cannabis machte Alpträume
Dann das Cannabis-Spray Sativex, das ich gegen meine Spastiken nehmen sollte bzw. auch genommen habe. Das sprüht man in den Mund, auf die Schleimhäute. Gaumen, unter die Zunge, Wangentaschen. Glaubt mir: das Zeug schmeckt absolut ekelhaft nach – ich weiß gar nicht nach was; irgendwas mit Katzen-Pipi. Angeblich soll es nach Minze schmecken; so steht es zumindest im Beipackzettel. Die haben keine Ahnung. Aber egal: es hat tatsächlich zuverlässig geholfen. Trotzdem, Leute, macht euch nichts vor: Das, was Spaß macht, wurde aus diesem Spray entfernt. Also nichts mit rosa Elefanten oder „Hach, die Welt ist so schön“! Das ist aber auch der Grund dafür, dass man trotz der Einnahme dieses Sprays Autofahren darf. Was ich persönlich aber nicht empfehlen würde. Ich habe mich mal mit einem befreundeten Polizisten unterhalten diesbezüglich. Er hat mir ganz klar gesagt, dass keine Strafe droht, wenn ich angehalten werde und meine Pupillen vergrößert sind, durch dieses medizinische Cannabis. Aber… Und jetzt kommt der Punkt: sollte ich in einen Unfall verwickelt sein; egal ob Verursacher oder Geschädigter. Wenn die Versicherung mitbekommt, dass ich unter Einfluss dieses Medikamentes gefahren bin, dann nutzt mir die ärztliche Bescheinigung, dass ich unter diesem Medikament geeignet bin ein Fahrzeug zu führen, auch nichts. Die Versicherung wird mir automatisch die Mitschuld zuschreiben, was erhebliche Konsequenzen für mich bedeuten könnte. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich damals schon gemerkt, wenn ich dieses Spray intus hatte. Meine Reaktionszeit war definitiv eingeschränkt und ich hätte es mir nie verziehen, wenn ein Mensch, oder ein Tier, darunter hätte leiden müssen. Ab diesem Gespräch mit dem Polizisten, habe ich die Pump-Hübe dieses Sprays nur noch nachmittags und abends genommen. Als ich dann, kurze Zeit darauf, böse Albträume bekommen habe, habe ich es abrupt abgesetzt. Mein Neurologe war entsetzt, denn eigentlich soll man das ausschleichen. Das war mir ehrlich gesagt egal. Jede Nacht Albträume, in denen ich Angst hatte und schweißgebadet aufgewacht bin? Nicht mit mir. ICH entscheide über meinen Körper. Da ist es mir völlig egal, was gemacht werden „soll“. Man „soll auch nicht zu viel Schokolade essen, weil die auf die Hüften geht. Oder Gummibärchen. Pfff… Mir doch egal. Aber ich lebe auch mit den Konsequenzen 😉.
MS-Therapien ändern sich immer wieder
Das einzige, auf was ich mich immer verlassen habe, und da habe ich meinem bzw. meinen Neurologen immer vertraut, das war die jeweilige MS-Therapie. Und im Laufe der Zeit ändert die sich nun mal; bzw. kann sich ändern. Unter Avonex (das musste einmal pro Woche in den Muskel gespritzt werden) und Rebif (alle zwei Tage subkutan gespritzt) hatte ich weiterhin Schübe. Mindestens einen pro Jahr; aber auch gerne mal zwei.
Deutlich ruhiger wurde es für mich dann unter Tysabri; alle vier Wochen per Infusion. Das Ganze ging neun Jahre lang „gut“, was nicht heißt, dass ich auch den ein oder anderen Schub hatte. Aber in dieser Zeit waren es, glaube ich, nur drei. Diese, schubmäßig erträgliche Zeit ging dann zu Ende, als meine Venen total vernarbt waren und sich keine Braunülen mehr legen ließen.
Dann kam Mayzent. Ein regelrechter Traum für mich. Tabletten, alle 24 Stunden. Ich hatte auf einmal so etwas wie Freiheit. Keine Termine mehr alle vier Wochen; keine Angst mehr, ob das dieses Mal mit dem Legen der Braunüle klappt (das kann nämlich ganz schön weh tun, wenn der Arzt regelrecht nach einer Vene stochert bzw. das teure Medikament dann ins Gewebe läuft). Der Traum zerplatzte, als sich meine Blutwerte nicht mehr akzeptabel verschlechtert haben.
In der Zwischenzeit ist meine schubförmige Form der MS in die schleichende Form (mit aufgesetzten Schüben, wie es so schön heißt), übergegangen. Medikament der Wahl: Ocrevus; alle sechs Monate intravenös. Als mir die ganzen Nebenwirkungen aber meinen Alltag und meine Lebensqualität genommen haben, war für mich der Punkt erreicht: Nix da. Schluss. Aus. Feierabend. Ich will nichts mehr von dem ganzen Zeug in mir haben.
Auch das habe ich in einem dieser Quartalstermine mit meinem Neurologen besprochen und er sagte selbst: „Das kann helfen; sicher ist das nicht. Manche kommen damit klar und manche eben nicht. Das Zeug ist pure Chemie! Wir machen es so: wenn sich wieder neue Herde auftun sollten, dann machen wir eine Cortison-Stoßtherapie, aber nichts weiter. Und gegebenenfalls zwei mal im Jahr drei Tage lang à 1000 mg Cortison; um alles „tot“ zu machen, was ggf. aufflackern könnte“. Und damit bin ich sowas von einverstanden.
Am Besten, man spricht auf Augenhöhe
Gestern also der obligatorische Austausch. Er hat mit mir den Befund meines letzten MRTs des Kopfes aus August mitgeteilt, in dem steht: „Stabiler Befund. Unverändert nachweisbares Meningiom rechts hochparietal an der Falx (was auch immer das ist; habe ich noch nie gehört) bis 2,7 x 2,3 cm. Unverändert nachweisbare postentzündliche Demyelinisierungsherde im Marklager linksbetont. Keine Blutung, neue Raumforderung oder frische Ischämie erkennbar. Im Vergleich zu den Voraufnahmen vom 09.12.2021 keine “sichtbare Änderung“. Neurologe happy und ich auch. Was natürlich nicht heißt, dass ich an manchen Tagen mehr zu kämpfen habe, als an anderen. Das heißt nur, dass im Moment der MRT-Aufnahme kein weiterer „Kabelfraß“ zu erkennen ist.
Dann noch die Überweisung fürs MRT der Halswirbelsäule in die Hand gedrückt; Termin für die Nervenmessung gemacht, da ihm die Taubheit meiner Fingerspitzen meiner rechten Hand ein paar Sorgenfalten ins Gesicht treiben (fragt mich mal…), Rezepte für mein Ropinirol (gegen das Restless Legs Syndrom), Baclofen (da erhöhen wir die Dosis; das ist gegen die Spastiken), und Amantadin 100 (gegen die Fatigue; es hilft nicht komplett, aber macht dieses Symptom erträglicher), sowie den Termin für den neuen Quartalstermin im Januar 2025.
Hand gegeben, „Tschö, bis zum nächsten Mal” und dabei noch erwähnt, dass mein Buch (Spring, damit du fliegen kannst. MS-Selbsthilfe Ratgeber) toll wäre; er habe es in seinem Besprechungszimmer liegen und könne das uneingeschränkt seinen Patienten empfehlen, die mit der frischen Diagnose zu ihm kämen, und das habe er auch schon ein paar mal getan. Für mich natürlich die Bestätigung, dass ich es „richtig gemacht“ habe.
Ihr wartet auf den Teil mit dem Horror-Trip?
Das war die Tour hin und zurück. Es hat in Bindfäden geregnet. Da weder mein Schatz da war noch meine Cousine, die mich hätte fahren können, war ich wieder auf den Bus angewiesen, bzw. DIE Busse. Termin beim Neurologen um 14.50 Uhr. Was für mich bedeutet: Aus der Bude raus um 13.05 Uhr. Abfahrt mit dem ersten Bus um 13.12 Uhr (zum Glück fährt der um diese Uhrzeit durch bis zum Busbahnhof Viersen; normalerweise habe ich noch einen Umstieg am Busbahnhof Mönchengladbach). Ankunft in Viersen um 13.50 Uhr. Abfahrt dort um 14.10 Uhr; Ankunft in Viersen-Dülken um 14.27 Uhr. Dann noch knapp 500 Meter laufen bis zum Neurologen. Und jetzt wird es spannend, denn der Rückbus fährt nur ein mal pro Stunde um jeweils volle Stunde und 18 Minuten. Normalerweise muss ich in der Praxis um diese Uhrzeit nur wenige Minuten warten, bis ich mit dem Doc sprechen kann. Dieses Mal leider nicht, weil sich ein anderer Patient vorgedrängelt hatte (hoffentlich hat der jetzt tagelang Durchfall…). Ergebnis: Aus der Praxis raus um 15.30 Uhr. Bus weg. Regen in Strömen. Ich unter dem Schirm zur Bushaltestelle gedackelt, die keine Sitzmöglichkeit bietet. Bis der Bus um 16.18 Uhr dann immerhin pünktlich kam, war ich an den Füßen nass und so richtig durchgefroren, sodass ich mich warm „zittern“ musste. Am Bahnhof Viersen dann immerhin nahtlos den verspäteten Bus nach Mönchengladbach (Busbahnhof) bekommen. Hier umgestiegen in die Linie zu mir nach Hause. 20 Minuten Wartezeit, weiterhin im Regen. Durch meine Wohnungstür gekommen um 17.37 Uhr. Somit war ich vier Stunden und mehr als 30 Minuten unterwegs für einen Termin, der eigentlich nur 15 Minuten dauerte. DAS ist für mich persönlich der Horror-Teil.
Und das wirkt natürlich heute nach. Ich bin kaputt – immer noch, auch nach ausreichend Schlaf – und habe Spastiken im rechten Fuß und, zu allem Überfluss, auch noch Spaß mit meinen MS-Hugs. Ich bin echt bedient.
Immerhin ist es mir wieder warm und ich sitze hier, schreibe, den Apfel-Vanille Tee neben mir bzw. vor meiner Nase. Der wärmt mich von innen und tut meinem Seelchen gut. Wie sagt mein Jens gerne? „Käferchen. Es wird alles gut“. Er hat Recht. Das wird es immer. Wenn auch nicht immer so schnell, wie ich es gerne hätte.
Was ist für euch „Horror“; was passiert dann mit euch und was macht ihr, damit es euch wieder gut geht?
Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, diesen Beitrag zu lesen! Ich hoffe, dass meine Erfahrungen dir ein Stück Klarheit oder Ermutigung schenken konnten. Als ich die Diagnose MS bekam, fühlte ich mich oft allein und überfordert. Genau deshalb habe ich ein Buch geschrieben, das ich selbst damals so dringend gebraucht hätte. „Spring, damit du fliegen kannst.: Ein Selbsthilfe-Ratgeber für MS-Erkrankte und ihre Angehörigen.“ Es ist bei Minerva-Vision erschienen. Wenn du Interesse hast, schau es dir gerne an – vielleicht ist es genau das, was auch dir weiterhelfen kann. Oder hör dir meinen Podcast „MS-Voices“ an. Bis zum nächsten Mal!
Du hast auch MS und möchtest mit mir in meinem Podcast darüber sprechen? Dann schreib mir eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.