Zornesröte
Mein Leben mit MS:
Hallo und herzlich willkommen bei MS-Voices! Ich bin Irene, und hier dreht sich alles um das Leben mit Multipler Sklerose (MS). Als ich vor einigen Jahren die Diagnose erhielt, hat sich mein Alltag auf den Kopf gestellt – und ich war plötzlich mit unzähligen Fragen, Ängsten und Herausforderungen konfrontiert. In diesem Blog möchte ich meine persönlichen Erfahrungen mit euch teilen und Menschen eine Stimme geben, die unter MS leiden. Wie ist das wirklich, mit MS zu leben? Wie verändert es den Alltag, die Beziehungen und die Zukunftsplanung? Hier gibt es ehrliche Einblicke, praktische Tipps und die ein oder andere Anekdote aus meinem Leben – direkt aus dem Herzen einer Betroffenen.
Alle können Fahrrad fahren, nur ich nicht!
Ja, richtig gelesen. Es treibt mir regelrecht die Zornesröte ins Gesicht, wenn es um das Thema Teilhabe bzw. Inklusion geht. Ich weiß nicht, ob es wirklich so viele verstehen (wie so gerne propagiert wird), was es heißt, ein Mensch mit Beeinträchtigung zu sein und was es für ihn bedeutet, ein selbstbestimmtes Leben leben zu wollen und vor allem zu können. Inklusion – das Wort, das viele offenbar nur aus dem Duden kennen oder weil es doch so sehr nach Gutmensch klingt. Mich kotzt das ehrlich gesagt an! Da gibt es Menschen und Institutionen, die sich feiern lassen, wenn sie etwas für Menschen mit Beeinträchtigung tun! Manchmal habe ich das Gefühl, die hätten es gerne, wenn ich sie mit „Eure Hoheit“ anrede und mich am Ende des Gespräches rückwärts entferne, in demütiger, gebückter Haltung. „Danke, Ihre Hoheit“, „Gerne, Ihre Hoheit“, „Dann sei es so, Ihre Hoheit“. Was bedeutet denn eigentlich Inklusion? Ich erlaube mir hier von der Homepage www.aktion-mensch.de zu zitieren; die haben es am besten und am verständlichsten auf den Punkt gebracht:
„Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch ganz natürlich dazugehört. Oder anders: Inklusion ist, wenn alle mitmachen dürfen. Egal wie du aussiehst, welche Sprache du sprichst oder ob du eine Behinderung hast. Zum Beispiel: Kinder mit und ohne Behinderung lernen zusammen in der Schule. Wenn jeder Mensch überall dabei sein kann, am Arbeitsplatz, beim Wohnen oder in der Freizeit: Das ist Inklusion.“
Gemeinsam verschieden sein
“Wenn alle Menschen dabei sein können, ist es normal verschieden zu sein. Und alle haben etwas davon: Wenn es zum Beispiel weniger Treppen gibt, können Menschen mit Kinderwagen, ältere Menschen und Menschen mit Behinderung viel besser dabei sein. In einer inklusiven Welt sind alle Menschen offen für andere Ideen. Wenn du etwas nicht kennst, ist das nicht besser oder schlechter. Es ist normal! Jeder Mensch soll so akzeptiert werden, wie er oder sie ist.”
Ist Inklusion ein Menschenrecht?
“Jeder Mensch hat das Recht darauf, dabei zu sein. In der UN-Behindertenrechtskonvention ist das Recht auf Inklusion festgeschrieben. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist ein Vertrag, den viele Länder unterschrieben haben. Auch Deutschland. Doch Deutschland und die anderen Länder müssen noch viel dafür tun, damit der Vertrag eingehalten wird.“Gelesen? Für mich sind die beiden Schlüsselworte „dabei sein“. Neun Buchstaben, die entscheiden, ob ich nur existiere oder wirklich dabei bin: Mittendrin im Leben. So. Und jetzt will natürlich jeder wissen, was genau mir die Zornesröte ins Gesicht treibt. Richtig?
Es geht um das Thema Mobilität.
Genauer gesagt das Fahrradfahren. Leider ist es mir nicht mehr möglich, mit einem normalen Fahrrad zu fahren. Seit meiner Diagnose kämpfe ich mit heftigen Gleichgewichtsproblemen; in Verbindung mit einer Halbseitenlähmung (Hemiparese) meiner rechten Körperhälfte führt das zu Stürzen – auch ohne auf einem Fahrrad zu sitzen. Aber immer wieder versuche ich es. Ich steige aufs Fahrrad, was ich generalstabsmäßig planen muss: Fahrrad kippen, damit ich mein rechtes Bein über den Einstieg führen kann (selbst die Räder mit den niedrigen Einstiegen sind für mich schwierig). Pedale ausrichten (das rechte ist mein Anfahrpedal). Mit dem rechten Bein antreten. Es ist dann schwierig für mich (fehlende Kraft im Bein), so viel Schwung zu entwickeln, dass das Rad dann schon ein paar Meter rollt. Ich muss sofort meinen Hintern auf den Sattel schieben, um mit dem linken Bein zusätzlich die Pedale zu treten. Wenn ich Glück habe, dann „fange“ ich mich und kann das Rad gerade richten.
Oder ich kippe um
Oftmals scheitert es aber daran, dass es schon da nicht funktioniert. Sollte es aber funktionieren, muss ich mir gut überlegen, an welchen Punkten der Strecke ich absteigen muss oder welche Straßen zu überqueren sind: Rund 100 Meter vorher muss ich meinen Körper regelrecht befehlen: Langsamer werden, aber nicht zu langsam. Mit der rechten Pedale unterste Stellung, mit dem rechten Bein auf die Pedale stellen. Langsam bremsen. Mit dem linken Bein von der linken Pedale runter und auf dem Asphalt aufstellen. Dann fängt der Zirkus wieder an mit dem Aufsteigen. Vor Kurzem wollte ich die Monschauer Straße, hier in Mönchengladbach, überqueren. Eine wirklich stark befahrene Straße. Wenn mal kurzfristig die Möglichkeit ist, diese Straße zu überqueren, dann aber hurtig. Mir ist es leider passiert, dass ich, während der Überquerung, das Gleichgewicht auf dem Rad verloren habe und im Winkel von 90 Grad umgekippt bin. Das habe ich noch niemandem erzählt, weil sich alle Sorgen machen und mich davon abhalten wollen, mit dem Rad zu fahren.
Dabei wäre das so wichtig für mich!
Ja, es gibt natürlich den ÖPNV. Aber wisst ihr, wie das ist, wenn der mal wieder tagelang bestreikt wird? Ich komme nicht aus dem Haus, um meine Wege zum Einkaufen wahrzunehmen, zur Apotheke oder andere, geschweige denn zur Physiotherapie, die ich dringend wahrnehmen müsste; sogar Termine bei meinem Neurologen musste ich schon absagen oder bei meiner Hausärztin. Aber selbst ohne Streiks: Meine Praxis für Physiotherapie ist genau 4,6 Kilometer entfernt. 10 Minuten mit dem Auto, 14 Minuten mit dem Rad. Mit dem Bus bzw. den Bussen (ich brauche zwei verschiedene pro Strecke) brauche ich 47 Minuten! Das kann man sich durchaus auf der Zunge zergehen lassen: rund eineinhalb Stunden Fahrt für eine Therapieeinheit von rund 30 Minuten. Wow.
Meine Welt würde größer werden.
Die Strecke zu meinem Arbeitsplatz (der kleine Minijob, den ich dreimal pro Woche ausübe und der meiner Psyche so gut tut). Übrigens: Diese Menschen dort haben verstanden, was Inklusion heißt. Für sie ist das ganz normal und völlig natürlich. Kein Mitleid oder so. Dort kann ich einfach sein , wer ich bin und mich entsprechend einbringen. Also: 3,5 Kilometer Entfernung. Mit dem Auto neun Minuten. Mit dem Fahrrad 13 Minuten. 37 Minuten mit den Bussen (ich muss ein mal umsteigen).
Davon abgesehen ist es manchmal eine Qual in den Bussen zu fahren: Je nach Uhrzeit ist es überfüllt mit Schülern. Und, ich will es nicht betonen, aber ich muss es: die wenigsten sind bereit, mir einen Platz zu überlassen. Acht von zehn Mal muss ich regelrecht darum betteln, und es funktioniert nur dann, wenn ich meinen Behindertenausweis zeige. Das ist nicht schön.
Ihr seht, worauf ich hinaus will? Mit dem Rad wäre es deutlich unkomplizierter für mich! Schneller, praktischer (weil ich dann auch mal spontan selbst einkaufen könnte, anstatt das alle zwei Wochen meinem Pflegedienst zu überlassen), einfacher.
Und wisst ihr, was das Schlimme daran ist?
Es würde ja funktionieren! Und das ganz einfach. Mit einem Spezialrad. Allerdings kommt jetzt das berühmte „aber“: Das gute Stück kostet in der Grundausstattung, die mir persönlich ja schon reichen würde, € 4.600,-! Und das ist sogar grundsätzlich noch eins der günstigeren Dreiräder. Es gibt da ja mittlerweile ein riesiges Angebot. 4.600 Euro. Das kann ich mir definitiv nicht leisten! Ich bin froh, dass ich mit meiner Erwerbsunfähigkeitsrente gerade mal so rumkomme. Der Zusatzverdienst in meinem Minijob sichert mir zumindest zwei größere Einkäufe pro Monat. Muss-Einkäufe – keine Lust-Einkäufe. Lust-Einkäufe hatte ich schon lange nicht mehr.
In den Rehas wird immer gesagt, dass die Krankenkassen die Kosten für dieses Hilfsmittel übernehmen. Allerdings musste ich herausfinden, dass das nur für Kinder und Jugendliche gilt. Immerhin. Als ich meine Krankenkasse darauf angesprochen habe, bin ich vor eine Wand gerannt. Wand aus Stahlbeton; zu hart für meinen Stierkopf. Ich habe wirklich alles versucht. Ich war so gut vorbereitet, aber kein Weiterkommen. Als ich dann das Argument der Teilhabe brachte, von Bewegung gesprochen habe, von Radtouren mit meinen Freunden und Familie, vom „Dabeisein“. Wisst ihr, was die mir an den Kopf geschmissen haben? „Dann lassen Sie sich doch von jemand anderem oder mit einem Taxi zum Treffpunkt fahren. Da können Sie dann ganz gemütlich mit allen zusammensitzen und erzählen, feiern oder grillen“.
Der Kampf mit der Krankenkasse bringt mich an die Grenze
Und das war der Moment, in dem mir die Zornesröte ins Gesicht gestiegen ist, in dem ich innerlich geplatzt bin! Der Moment, in dem ich innerlich rasend vor Zorn geworden bin. Die zahlen für alles Mögliche; für Homöopathie und was weiß ich nicht alles. In der Öffentlichkeit überschlägt man sich mit den Beteuerungen, besser als Krankenkasse A, B oder C zu sein. Aber wenn es um LEBEN geht, ein faires Leben mit Beeinträchtigung, dann lassen die einen fallen, wie eine heiße Kartoffel. Die haben keine Ahnung, wie es ist, immer kämpfen zu müssen! Und, jetzt mal ganz ehrlich: wäre nicht die Kostenübernahme für dieses Dreirad deutlich günstiger, als eine erneute Reha?
Liebe Menschen, die ihr die Entscheider seid, ob etwas zu genehmigen ist oder nicht: ich würde mir wünschen, dass ihr mal in unseren Schuhen lauft. Nicht nur ein Stündchen oder so. Nein! Eine komplette Woche wäre ganz gut – und dann sprechen wir uns nochmal.
Manchmal frage ich mich, ob ich so dermaßen bekloppt bin, oder ob es die anderen sind. Auf jeden Fall macht mich diese Ignoranz richtig, richtig wütend. Und das Allerschlimmste für mich ist, dass mir mein Verstand sagt, dass ich in dieser Sache keinen Schritt weiter kommen werde…
Was macht dich so richtig wütend?
Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, diesen Beitrag zu lesen! Ich hoffe, dass meine Erfahrungen dir ein Stück Klarheit oder Ermutigung schenken konnten. Als ich die Diagnose MS bekam, fühlte ich mich oft allein und überfordert. Genau deshalb habe ich ein Buch geschrieben, das ich selbst damals so dringend gebraucht hätte. „Spring, damit du fliegen kannst.: Ein Selbsthilfe-Ratgeber für MS-Erkrankte und ihre Angehörigen.“ Es ist bei Minerva-Vision erschienen. Wenn du Interesse hast, schau es dir gerne an – vielleicht ist es genau das, was auch dir weiterhelfen kann. Oder hör dir meinen Podcast „MS-Voices“ an. Bis zum nächsten Mal!
Du hast auch MS und möchtest mit mir in meinem Podcast darüber sprechen? Dann schreib mir eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.