„Viele wünschen sich im Nachhinein, es hätte jemand gefragt“
Die Zahl der zur Anzeige gebrachten Fälle von häuslicher Gewalt steigt. Das liegt auch an der größer werdenden gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Gut geschultes medizinisches Personal kann als in der Regel erste Anlaufstelle für Opfer einen wichtigen Beitrag leisten, dass sie sich offenbaren. Bettina Pfleiderer ist Ärztin am UKM (Universitätsklinikum Münster). Die Expertin für geschlechtersensible Medizin und ehemalige Welt-Ärztinnenbund-Präsidentin leitet als Professorin der Universität Münster auch das auf drei Jahre angelegte europaweite Opferschutzprojekt VIPROM (Victim Protection in Medicine), das Beschäftigte in der Medizin sensibilisieren soll, mögliche Opfer zu erkennen.
Frau Prof. Pfleiderer, Menschen die von häuslicher Gewalt betroffene sind bleiben bei der medizinischen Vorstellung ihrer Verletzungen manchmal unerkannt, zumindest aber schweigen sie zur wahren Herkunft ihrer Verletzungen. Welche Rolle kommt da dem medizinischen Personal zu?
Wir haben durch Interviews mit den in der Medizin Beschäftigten festgestellt, dass bei ihnen oft nicht ausreichend Kenntnisse zu möglichen Hinweisen für häusliche Gewalt vorhanden sind. Das führt zu Unsicherheit und man traut sich in der Folge oft nicht, nach Misshandlungen zuhause zu fragen. Ziel unseres europaweiten Projekts VIPROM ist es, die Lehrpläne für den medizinischen Sektor so zu erweitern, dass die Beschäftigten sicher sind, Patientinnen und Patienten nach häuslicher Gewalt zu fragen. Das geht im arbeitsverdichteten Alltag oft unter, dass man einen Verdacht anspricht, auch weil es für beide Seiten mit Scham oder auch Hilflosigkeit behaftet sein kann.
Worauf müssen Beschäftigte des Medizinsektors bei einem Anfangsverdacht von häuslicher Gewalt denn konkret achten?
Dazu müsst man zunächst einmal wissen, welche Formen und Hinweise von häuslicher Gewalt es gibt. Da geht es zum Beispiel um die typischen Verletzungsmuster, aber auch um auffälliges Verhalten. Und dann, wenn ich dieses Wissen habe, muss ich genau hinsehen. In der Gynäkologie und Geburtshilfe sehen wir andere Hinweise als in der chirurgischen Notaufnahme. Wenn man die roten Flaggen bei der Anamnese oder Behandlung erkennt, ist schon viel gewonnen – dann muss man sich nur noch zu fragen trauen.
In welchen medizinischen Disziplinen werden denn potentielle Betroffene von häuslicher Gewalt zuerst vorstellig?
Es gibt natürlich „Hot-Spots“ wie die Notaufnahme, wo körperliche Verletzungen durch Misshandlungen zuerst eintreffen. Außerdem die Geburtshilfe, denn es ist bekannt, dass Gewalt im häuslichen Umfeld in vielen Fällen durch eine Schwangerschaft entweder erstmals ausgelöst wird oder bestehende Gewalt eskaliert. Es gibt also bestimmte Risikosituationen für Frauen. Aber auch Männer können von häuslicher Gewalt betroffen sein. Wenn Kinder Gewalt erleiden, kommen diese mit Verletzungen in die pädiatrische Notaufnahme. Da ist der Blick auf die typischen Verletzungsmuster glücklicherweise im Sinne des Kinderschutzes schon länger geschärft. Aber auch Depressionen als Folge der Gewalt können auftreten; seelische Verletzungen können so schlimm wie körperliche sein. Letzten Endes sehen wir in der Medizin Betroffene in jeder Fachdisziplin.
Was sind besondere Verdachtsmomente, wenn sich eine Patientin oder ein Patient mit auffälligen Verletzungen in der Klinik vorstellt?
Ein wichtiges Verdachtsmoment ist, wenn das Verletzungsmuster offensichtlich nicht zu dem passt, was der oder die Betroffene zur Entstehung der Verletzungen erzählt. Auch eine wichtige Beobachtung ist es, wenn eine Begleitperson mit in die Klinik kommt und dann dort für die Patientin oder den Patienten antwortet. Wenn diese nicht gerade bewusstlos sind, dann ist das eine absolut rote Flagge – da sollte man sehr hellhörig werden.
Wie könnte eine gute Reaktion auf solch ein Verhalten aussehen?
Am besten isoliert man die Begleitperson erst einmal räumlich von dem Patienten oder der Patientin. Man muss dringend eine Situation schaffen, in der man mit dem Patienten oder der Patientin alleine sprechen kann. Wenn häusliche Gewalt auf Nachfrage verneint wird, muss man das allerdings als medizinisches Personal unbedingt respektieren. Das ist für mich eine ganz wichtige Botschaft: Man darf von Gewalt Betroffene nicht gegen ihren Willen etwas aufzwingen. Diese brauchen im Schnitt fünf bis sieben Anläufe, bevor sie überhaupt etwas sagen. Jede Nachfrage eröffnet einen Weg dorthin. Wichtig ist, in die Dokumentation mitaufzunehmen, dass man nachgefragt hat. Viele betroffene Personen von häuslicher Gewalt sagen im Nachhinein: Ich wünschte, es hätte jemand gefragt.
Warum ist eine gerichtsfeste medizinische Dokumentation so wichtig?
Es kann Jahre nach dem ersten Auftreten von Gewalt passieren, dass dann irgendein Auslöser dazu führt, dass der oder die Betroffene endlich zur Polizei geht und Gewalt anzeigt. Allerdings passiert das nur in geschätzten zehn Prozent der Fälle überhaupt. Ersthelfer nach häuslicher Gewalt sind dagegen Beschäftigte aus der medizinischen Versorgung. Wenn dann die Ersthelfenden ihren Verdacht medizinisch richtig dokumentieren, kann das vor Gericht später ein wertvoller Baustein für den Beweis von Gewalt sein, der dann in vielen Fällen auch herangezogen wird.
Der Kommentar von Claudia aus dem MV-Team:
Ich habe mir vor längerer Zeit einmal eine Verbrennung am Fuß zugezogen. Eine ganz blöde Geschichte: um den Rasenmäher bei uns zu starten, muss ich auch die Gartenbeleuchtung anmachen. Sonst habe ich keinen Strom draußen. Die Strahler werden dann im Laufe des Mähens ziemlich heiß und ich bin rückwärts mit dem Knöchel an die heiße Lampe geraten. Bis ich den Schmerz realisiert hatte, war dort eine fiese Verbrennung in Größe dieser Strahlerfläche. Ich bin damit zum Notarzt gefahren, der mir merkwürdige Fragen stellte. Ich erinnere mich an das Misstrauen in seiner Stimme an den Ausdruck seiner Augen: zweifelnd, irgendwie bohrend. Ich Schäfchen, ich habe ihn nicht verstanden, ich war nur irritiert. Im Nachhinein wurde mir klar, dass er wohl Zweifel an meiner Geschichte hatte, und als Ursache anderes vermutete. Aber da dies so fern meiner Lebensrealität war, konnte ich auf die wohl unausgesprochene Frage keine Antwort geben. Als ich ihn vollkommen verständnislos ansah, bekam ich eine gute Brandsalbe, einen Verband und fuhr wieder Nachhause. Dort hatte mein Mann den Rasen in der Zwischenzeit zu Ende gemäht.
Man darf nicht vergessen, dass Ärzte und Pflegepersonal die ersten sind, die mit Opfern von Gewalt Kontakt haben. Diese Gruppe so zu schulen, dass sie trotz der Herausforderungen des stressigen Klinikalltags sensibel bleiben und richtig agieren können, ist wichtig. Und eine Art “Verhaltensprotokoll” zu entwickeln, ist zudem effektiv. Ansonsten müsste sich ja jeder Arzt, jede Schwester alleine ihren Weg durch diesen Dschungel bahnen, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie sie am besten helfen können – und das unter Zeitdruck und oft ohne klare Anhaltspunkte. Ein standardisiertes Verfahren könnte hier eine echte Unterstützung sein, denn es nimmt den Beschäftigten die Unsicherheit und gibt ihnen Werkzeuge an die Hand, mit denen sie in schwierigen Situationen handeln können.
Natürlich muss so ein Protokoll flexibel sein, denn jeder Fall ist anders. Aber es könnte klare Leitlinien bieten: Wie erkenne ich die „roten Flaggen“? Wann sollte ich nachfragen? Und wie schaffe ich eine Umgebung, in der Betroffene sich sicher fühlen? Gleichzeitig müsste man dafür sorgen, dass solche Gespräche im Klinikalltag überhaupt möglich sind – und das heißt, den Druck auf die Beschäftigten zu reduzieren.
Denn bei aller Notwendigkeit von Wissen und Sensibilität: Ohne Zeit bleibt all das Theorie. Wenn Ärzte und Pflegekräfte permanent von Patient zu Patient hetzen müssen, wird es unmöglich, auf das Verhalten oder die Verletzungen einer Person einzugehen, geschweige denn, ein vertrauensvolles Gespräch aufzubauen. Und dafür braucht es mehr Zeit, weniger Überlastung und eine klare Priorisierung solcher Themen in der Klinikorganisation.
Die erste Nachfrage kann für Betroffene der Beginn eines Weges aus der Gewalt sein. Es wäre schade, wenn genau dieser Moment im hektischen Alltag verloren ginge. Deshalb brauchen Ärzte und Pflegekräfte nicht nur Wissen, sondern auch die Bedingungen, dieses Wissen anwenden zu können – für alle, die sie brauchen.