
Unsichtbar, angepasst, überfordert – Die stille Überlebensstrategie
Was es bedeutet, mit einer narzisstischen Mutter aufzuwachsen.
Sie gelten als pflegeleicht, unkompliziert, reif für ihr Alter. Erwachsene nicken anerkennend. Lehrer loben ihr Sozialverhalten. Und doch verbirgt sich hinter diesem Verhalten oft ein Kind, das eines gelernt hat: Nicht stören. Nicht auffallen. Nicht fühlen.
Denn wer mit einer narzisstischen Mutter aufwächst, muss früh lernen, dass Zuneigung nicht bedingungslos ist. Dass Liebe verwechselt wird mit Leistung. Und dass es gefährlich werden kann, wenn man einfach nur Kind ist.
Die Kunst, nicht aufzufallen
Ob Sündenbock oder „Sonnenschein“ – beide Rollen in einer narzisstisch geprägten Familie führen zur gleichen Strategie: sich selbst zurücknehmen. Brav sein. Funktionieren. Nicht weil man will, sondern weil es anders nicht geht.
Viele dieser Kinder haben feine Antennen. Sie spüren die Stimmung, bevor sie ausgesprochen wird. Sie vermeiden Fragen, weil sie die Antwort ohnehin kennen: „Mit dir ist es immer schwierig.“ Also lächeln sie. Helfen. Machen keinen Ärger. Und verlieren dabei sich selbst.
Hinter dem Lächeln: ein Kind, das nie Kind sein durfte
Manche Menschen funktionieren ein Leben lang. Sie sind hilfsbereit, empathisch, scheinbar stark. Aber sie spüren sich selbst kaum. Nähe verunsichert sie. Lob irritiert. Und auf die Frage „Wie geht’s dir?“ wissen sie keine Antwort – weil sie nie gelernt haben, dass ihre Gefühle wichtig sind.
Der Preis? Tiefe Erschöpfung. Das Gefühl, irgendwie nicht ganz da zu sein. Und ein leises Sehnen nach etwas, das sie nie kannten: bedingungslose Annahme.
Wenn Stärke nur eine Maske ist
Diese „Spiegelkinder“ – so nennt man sie manchmal – hören oft Sätze wie:
„Du brauchst niemanden.“
„Du wirkst so selbstbewusst.“
„Du kriegst das alles so gut hin.“
Aber hinter der Maske liegt oft Einsamkeit. Und die Angst, wirklich gesehen zu werden – weil Gesehenwerden früher nie Gutes bedeutete. Es bedeutete Kritik, Bloßstellung, Liebesentzug.
Und heute?
Heute sind viele dieser Kinder längst erwachsen. Aber sie leben weiter im Modus von damals. Scannen jede Stimmung. Warten auf den Moment, in dem sie „zu viel“ sind. Und passen sich erneut an – in Beziehungen, im Job, im Alltag.
Doch Heilung beginnt nicht mit einem großen Knall. Sondern mit einem leisen: Ich darf.
Ich darf traurig gewesen sein, auch wenn ich es nie zeigen durfte.
Ich darf mich verloren haben – und mich heute wiederfinden.
Ich darf wütend sein – auf das, was war. Und auf das, was nie war.
Und ich darf beginnen, mir selbst das zu geben, was mir niemand gegeben hat: echtes Mitgefühl.
Extra für Lehrer:innen und Pädagog:innen:
Leise Kinder – und was ihre Stille bedeuten kann
Nicht jedes stille Kind ist schüchtern. Nicht jedes brave Kind ist glücklich.
Es gibt zwei Arten von stillen Kindern:
- Die von Natur aus Ruhigen:
Sie spielen gern allein, brauchen Rückzugszeiten und sind einfach introvertiert. Diese Kinder wollen still sein. Sie genießen es. Ihre Ruhe ist kraftvoll – nicht hilflos. - Die Angepassten:
Diese Kinder müssen still sein. Weil sie gelernt haben, dass alles andere gefährlich ist. Sie stören nicht. Melden sich nicht. Fallen nicht auf. Und genau deshalb werden sie oft übersehen. Ihre Stille ist kein Ausdruck von Ruhe – sondern von Angst.
Woran erkennt man den Unterschied?
- Wirkt das Kind in sich ruhend – oder angespannt?
- Zieht es sich zurück, um aufzutanken – oder um sich zu schützen?
- Wird es still, wenn man ihm näherkommt?
Nicht jede Stille ist gleich. Die eine ist Freiheit. Die andere ein Notruf.
Introvertierte Kinder brauchen Raum. Angepasste brauchen Beziehung.
Und beide brauchen eine Botschaft, die ankommt, ohne laut zu sein:
Du musst dich nicht verstellen.
Du darfst du sein – leise oder laut. Und du bist genug.

Zum Weiterlesen: “Aschenkind” von Livia Brand. Viele Kinder narzisstischer Mütter wachsen äußerlich „gut“ auf. Sie sind gepflegt. Werden pünktlich zur Schule gebracht. Haben eine Brotdose mit geschnittenem Obst. Was fehlt, ist nicht das Sichtbare – es fehlt das Gesehenwerden. Betroffene wissen im Inneren, dass etwas nicht stimmt, haben aber keine Worte dafür. Ein Selbsthilfe-Ratgeber für alle, die glauben, nicht richtig zu sein. Es kann sein, dass die Ursache gar nicht in dir liegt. Exklusiv auf amazon.
Kommentar von Nina, unserem Mental-Health-Coach: Wenn ein Kind sich zurücknimmt – um geliebt zu werden
Wir alle wünschen uns starke, gesunde, lebendige Kinder. Kinder, die ihre Gefühle zeigen, ihre Bedürfnisse äußern, ihre Meinung sagen. Doch was, wenn ein Kind früh lernt, dass genau das – seine Lebendigkeit – nicht willkommen ist? Wenn Kinder mit narzisstisch geprägten Eltern aufwachsen, erleben sie etwas zutiefst Verstörendes: Dass nicht sie selbst geliebt werden – sondern eine Version von ihnen, die funktioniert. Die brav ist. Angepasst. „Pflegeleicht“.
Sie lernen schnell: Wenn ich traurig bin, werde ich getadelt. Wenn ich wild bin, werde ich beschämt. Wenn ich Nähe suche, werde ich abgewiesen. Also hören sie auf, zu stören. Hören auf, zu fühlen. Hören auf, sie selbst zu sein.
Diese Kinder entwickeln keine echte Kindheit – sondern ein Beziehungskonzept, das sie schützen soll:
Ich bin dann sicher, wenn ich nicht auffalle.
Ich bin dann liebenswert, wenn ich keine Bedürfnisse habe.
Ich bin dann richtig, wenn ich die Erwartungen erfülle.
Diese Muster sind hochintelligent. Sie sind die kreative Lösung eines Kindes, das überleben will.
Aber sie stehen einem gesunden Erwachsenwerden im Weg. Viele dieser Kinder – später Erwachsene – sitzen in meinen Beratungen. Sie sind empathisch, zuverlässig, fürsorglich. Und gleichzeitig zutiefst erschöpft. Sie kümmern sich um andere – aber nie um sich selbst. Sie können zuhören – aber nicht reden. Sie können geben – aber nichts annehmen. Was diese Menschen brauchen, ist nicht Therapie im klassischen Sinne. Sie brauchen Beziehung.
Eine Beziehung, in der sie nicht leisten müssen. Nicht gefallen. Nicht stark sein. Sie brauchen einen Raum, in dem jemand sagt:
„Ich sehe dich. Nicht deine Leistung. Nicht deine Maske. Sondern dich.“
Und vielleicht ist genau das der wichtigste Impuls für uns als Eltern, Lehrer:innen, Pädagog:innen:
Nicht jedes brave Kind ist glücklich. Nicht jedes stille Kind ist stark.
Und nicht jedes Lächeln bedeutet, dass alles gut ist.Es braucht unsere Bereitschaft, hinzuschauen. Nicht auf das Verhalten – sondern auf den Menschen dahinter.
Der Kommentar von Jonas, unserem Experten für Neurobiologie: Leise Kinder, lauter Notruf?
Früher hat man Kinder gelobt, wenn sie “nicht aufgefallen” sind. Heute wissen wir: Man kann auch im Stillsein sehr laut leiden.
Ich gebe zu: Ich war auch so ein Kind, das gut funktioniert hat. Hab meine Hausaufgaben gemacht, nicht gemeckert, immer freundlich, immer höflich – und innerlich? Oft ratlos. Was wird jetzt wieder erwartet? Wen darf ich heute nicht enttäuschen?
Viele Kinder lernen früh, dass es sicherer ist, nicht sie selbst zu sein. Und das ist das eigentliche Drama: Wenn ein Kind nicht weint, obwohl ihm zum Weinen ist. Wenn es immer lächelt, obwohl es innerlich gerade einen Weltuntergang erlebt. Dann sagen Erwachsene Dinge wie:
„So ein braves Kind!“
Und das Kind denkt: Wenn ich lieb bin, dann mögen sie mich. Wenn ich ICH bin – wird’s gefährlich.
Und was passiert dann? Das Kind wächst heran, wird groß, bekommt einen Job, vielleicht eigene Kinder – und lebt weiter im gleichen Film. Funktioniert, gibt sich Mühe, sagt „alles gut“, auch wenn innerlich längst nichts mehr gut ist.
Wir nennen das dann Burnout. Oder Panikattacke. Oder psychosomatisch. Aber eigentlich ist es etwas ganz anderes: Eine überreife Kinderseele, die nie gelernt hat, dass sie einfach da sein darf – ohne zu gefallen. Deshalb mein Vorschlag für alle Eltern, Lehrer und Menschen, die mit Kindern zu tun haben:
Wenn ein Kind leise ist, fragt nicht: „Wie kriegen wir das lauter?“
Sondern: „Was braucht dieses Kind, um sich sicher zu fühlen?“
Und wer selbst eines dieser Kinder war – der kann sich heute ruhig mal sagen:
„Ich darf jetzt laut sein.
Ich darf mich spüren.
Ich darf nerven.
Und ich darf leben – nicht nur funktionieren.“
Denn ganz ehrlich: Die Welt braucht keine perfekten Menschen.
Sie braucht echte. Und die dürfen manchmal leise beginnen – und trotzdem laut dazugehören.