Leben

Ein Bissen und auf einmal ist alles wieder da

Manchmal reicht ein Bissen.

Ein kleiner Geschmack, ein vertrauter Geruch, und auf einmal ist alles wieder da: die Küche von früher, das Licht am Nachmittag, das Geräusch des Löffels im Teeglas. Wir sitzen wieder auf dem alten Hocker in Omas Küche und hören zu, wie sie mit Mehl an den Fingern über das Leben spricht.

Ich denke oft an solche Momente. Und ich denke dann auch an Marcel Proust, einen französischen Schriftsteller, der über genau so einen Moment ein ganzes Buch geschrieben hat. Eigentlich sogar sieben Bände. Sein Hauptwerk heißt „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ – und obwohl das ziemlich schwer und kompliziert klingt, beginnt alles mit etwas ganz Einfachem: mit Tee und einem kleinen französischen Gebäck namens Madeleine. Proust taucht das Gebäck in den Tee, kostet – und wird plötzlich von einer Welle der Erinnerung überrollt. An seine Kindheit, an die Ferien bei der Großmutter, an alles, was vorbei ist, aber nie ganz verloren ging.


Weitere Themen:

Denn seine Großmutter war mehr als nur eine alte Frau mit Büchern. Adèle Weil hieß sie, und sie war für den kränklichen, verträumten Jungen eine Verbündete. Sie las ihm vor, verstand seine Gedanken, war geduldig, wo andere genervt waren. Sie war das, was man ein Herz auf zwei Beinen nennt. Und sie hat ihn geprägt. Durch Liebe. Durch Zeit. Durch Sprache.

Proust war oft krank, litt unter Asthma, war feinfühlig bis zur Zerbrechlichkeit. Die Welt war ihm zu laut, zu hart. Aber sie – die Großmutter – war weich. Und klug. Und sie hat ihm beigebracht, dass in jedem kleinen Moment ein großes Gefühl stecken kann.

Der Geschmack einer Madeleine wurde für ihn zur Brücke in die Vergangenheit. Ein in Tee getauchtes Gebäck – und plötzlich bricht die Vergangenheit über einen herein wie warmer Sommerregen: die Geräusche, die Räume, die Stimmen, die man verloren glaubte. Proust hat das geschrieben, weil er es gefühlt hat. Ich habe auch so eine Szene. Sie spielt nicht in Combray, sondern in einem Vorort von Mönchengladbach. Meine Großmutter hieß nicht Adèle, sondern Maria. Und es war keine Madeleine, sondern ein in Butterschmalz ausgebackener Hefepannkuchen mit sauren Kirschen und Zuckerkruste. Ich kann es heute noch schmecken. Und wenn ich es tue, ist sie wieder da. Für einen Moment.

Marcel Proust schrieb: „Die wahren Paradiese sind die, die wir verloren haben.“ Ich glaube, das stimmt nur halb. Denn manchmal – mit einem Lied, mit einem Bissen, mit einem Duft – kommen sie zurück. Still, aber bestimmt. So wie Adèle zu Marcel. Und meine Großmutter zu mir.

Hier schreibt Claudia vom Minerva-Vision-Team.
Als echtes Omakind hat sie früh gelernt: Gute Antworten brauchen kein Coaching, manchmal reicht ein Platz am Küchentisch. Heute schreibt sie über das, was uns wirklich guttut: gute Fragen, einfache Antworten, leckeres Essen – und das Glück, wenn jemand einfach da ist.

.

Teilen