
Meine Freundschaft mit der Einsamkeit
Hier schreibt die Ute. Über 50, mit mehr Lebenserfahrung als Faltencremes im Badezimmerschrank. Liebt Bücher, guten Rotwein und Gespräche, die auch mal wehtun dürfen. Sie hält nichts von Schönheitswahn und Fitness-Apps, aber viel von ehrlichen Worten und warmem Apfelkuchen. Mit Sahne. Und jeden Dienstag schenkt sie uns ihre Gedanken.
Neulich fragte mich meine Nachbarin beim Treppenhaus-Smalltalk: “Ute, wird dir nicht manchmal schrecklich einsam?” Sie sagte das mit so einem mitleidigen Unterton, als hätte ich ihr gerade erzählt, dass ich an einer unheilbaren Krankheit leide. Ich habe kurz überlegt und dann gesagt: “Weißt du, Gisela, mir ist manchmal einsam. Aber schrecklich? Nein. Eher… interessant.” Sie hat mich angeschaut, als hätte ich gesagt, dass ich gerne mit Spinnen kuschele.
Das große Missverständnis
Alleinsein ist in unserer Gesellschaft offenbar das Schlimmste, was einem passieren kann. Eine Art soziales Versagen. Als würde jede Frau über 50 ohne Mann an ihrer Seite automatisch zu einer tragischen Figur, die abends weinend Netflix schaut und sich von Tiefkühlpizza ernährt. Dabei verwechseln die meisten Menschen zwei völlig verschiedene Dinge: Alleinsein und Einsamkeit. Alleinsein ist ein Zustand. Einsamkeit ist ein Gefühl. Und das eine hat mit dem anderen weniger zu tun, als man denkt.
Meine Einsamkeits-Biografie
Ich war nicht immer allein. Ich war verheiratet, hatte Beziehungen, war Teil von Paaren, Familien, Freundeskreisen. Und weißt du, was paradox ist? Meine einsamsten Momente hatte ich nicht, als ich allein war. Ich hatte sie, als ich neben jemandem lag, der emotional tausend Kilometer entfernt war. Echte Einsamkeit ist nicht, wenn niemand da ist. Echte Einsamkeit ist, wenn jemand da ist, aber dich trotzdem nicht sieht.
Der Unterschied zwischen einsam und allein
Allein zu sein bedeutet: Ich bin physisch allein in meiner Wohnung. Niemand redet mit mir, niemand stört mich, niemand will etwas von mir. Einsam zu sein bedeutet: Ich fühle mich unverstanden, ungesehen, abgeschnitten von der Welt. Ich kann allein sein, ohne mich einsam zu fühlen. Und ich kann mich einsam fühlen, obwohl ich von Menschen umgeben bin. Das zu verstehen hat mein Leben verändert.
Die Entdeckung meiner eigenen Gesellschaft
Am Anfang, als ich plötzlich allein lebte, war es tatsächlich schwer. Die Stille in der Wohnung kam mir bedrohlich vor. Ich habe den Fernseher laufen lassen, nur um Stimmen zu hören. Ich bin in überfüllte Cafés gegangen, nur um nicht allein zu sein. Bis mir klar wurde: Ich kannte mich gar nicht. Ich wusste nicht, wie es ist, nur mit mir zu sein. Ich hatte Angst vor meiner eigenen Gesellschaft. Also habe ich angefangen, mich kennenzulernen. Wie eine erste Verabredung, nur mit mir selbst.
Was ich über mich gelernt habe
Ich mag es, morgens lange am Küchentisch zu sitzen und aus dem Fenster zu schauen. Ohne zu reden, ohne zu planen, einfach nur zu schauen. Ich rede mit mir selbst. Laut. Manchmal führe ich ganze Unterhaltungen mit mir. Und weißt du was? Ich bin eine ziemlich gute Gesprächspartnerin. Ich esse Dinge, die andere Menschen komisch finden. Marmeladenbrot zum Abendessen. Suppe zum Frühstück. Ich muss niemandem erklären, warum. Ich schaue Filme, die andere langweilig finden. Ich lese Bücher, die andere kitschig finden. Ich höre Musik, die andere altmodisch finden. Ich bin gut allein. Besser, als ich dachte. Niemand sagt mir, dass ich zu laut Musik höre oder zu lange im Bad bin. Niemand beschwert sich über meine Unordnung oder meine Gewohnheiten. Ich kann um vier Uhr nachts aufstehen und Kuchen backen, wenn mir danach ist. Ich kann den ganzen Sonntag im Pyjama verbringen. Ich kann weinen, lachen, fluchen – alles ohne Publikum und ohne Erklärungen. Das ist nicht einsam. Das ist Freiheit.
Wenn die Einsamkeit doch kommt
Trotzdem gibt es Momente, da überkommt mich die echte Einsamkeit. Meist abends, wenn der Tag zur Ruhe kommt und die Gedanken kreisen. Dann fühle ich mich tatsächlich abgeschnitten, vergessen, überflüssig. Früher habe ich dann panisch Leute angerufen oder bin rausgegangen, nur um unter Menschen zu sein. Heute behandle ich die Einsamkeit wie einen ungebetenen, aber nicht unbekannten Gast. “Ach, da bist du wieder”, denke ich dann. “Okay, komm rein. Aber du bleibst nicht lange.” Ich kämpfe nicht mehr gegen das Gefühl an. Ich lasse es da sein. Manchmal setze ich mich bewusst damit hin, wie mit einer alten Bekannten. “Was willst du mir denn heute sagen?”, frage ich dann. Oft steckt hinter der Einsamkeit etwas anderes: Müdigkeit, Sorgen, die Sehnsucht nach Verständnis. Manchmal rufe ich dann doch jemanden an. Aber nicht aus Panik, sondern aus Lust auf ein gutes Gespräch. Manchmal mache ich gar nichts und warte, bis das Gefühl wieder geht. Wie schlechtes Wetter.
Die mitleidigen Blicke der anderen
Das Schwierigste am Alleinsein sind nicht die einsamen Momente. Das Schwierigste sind die anderen Menschen. Die Art, wie sie dich anschauen, wenn du allein ins Restaurant gehst. Die Art, wie sie “Arme Ute” denken, wenn du erzählst, dass du das Wochenende allein verbracht hast. Die gut gemeinten Verkupplungsversuche: “Ich kenne da jemanden für dich!” Als wäre ich ein defektes Gerät, das nur repariert werden müsste. Ich bin nicht kaputt. Ich bin nicht unvollständig. Ich bin nicht tragisch. Ich bin eine erwachsene Frau, die gelernt hat, mit sich selbst klarzukommen. Das ist keine Notlösung, das ist eine Fähigkeit. Ja, ich bin manchmal einsam. Aber ihr in euren Beziehungen seid das auch. Der Unterschied ist nur: Ich gebe es zu.
Die Wahrheit über Gesellschaft
Ich brauche Menschen. Natürlich brauche ich Menschen. Aber ich brauche sie aus den richtigen Gründen: weil ich sie mag, weil sie mich bereichern, weil wir uns etwas zu sagen haben. Ich brauche sie nicht, um mich vollständig zu fühlen. Ich brauche sie nicht, um meine Angst vor dem Alleinsein zu betäuben. Das macht meine Beziehungen zu anderen ehrlicher. Wenn ich mit jemandem zusammen bin, dann, weil ich es will, nicht weil ich es brauche. Meine besten Freunde wissen, dass ich gern allein bin. Sie respektieren das. Sie fragen nicht ständig: “Ist alles okay?”, wenn ich mal eine Woche nichts von mir hören lasse. Sie wissen: Wenn Ute sich meldet, dann, weil sie Lust auf Gesellschaft hat. Wenn sie sich nicht meldet, dann braucht sie gerade ihre Ruhe.
Meine Freundschaft mit der Stille
Heute mag ich die Stille in meiner Wohnung. Sie ist nicht bedrohlich, sie ist friedlich. Sie gibt mir Raum für meine Gedanken, für meine Träume, für mich selbst. In der Stille höre ich Dinge, die ich in der Gesellschaft anderer überhöre: den Regen am Fenster, die Uhr an der Wand, meinen eigenen Atem. In der Stille finde ich zu mir zurück, wenn die Welt zu laut geworden ist. Der wahre Luxus ist nicht, nie allein zu sein. Der wahre Luxus ist, allein sein zu können und zu wissen: Ich bin genug. Ich bin gute Gesellschaft für mich selbst. Das zu können macht mich nicht zu einer Einzelgängerin. Es macht mich zu einer erwachsenen Frau, die weiß, was sie braucht und was sie nicht braucht.
Die Ute vom Dienstag
P.S.: Als ich das hier geschrieben habe, habe ich zwischendurch eine Pause gemacht und mir einen Tee gekocht. Dabei habe ich gedacht: “Wie schön, dass ich das allein machen kann, ohne jemanden zu fragen, ob er auch einen will.” Kleine Freuden der Einsamkeit.