Psychologie

„Ich musste lernen, ohne sie zu leben“

Erzähl mir dein Leben:

„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.

Anna wurde von ihrer Familie verstoßen

Es gibt kaum etwas Schmerzhafteres, als von den Menschen, die einem am nächsten stehen sollten, verstoßen zu werden. Für Anna (31) war es genau das: Als sie sich entschied, ihren eigenen Weg zu gehen, brach ihre Familie den Kontakt ab. In diesem Interview spricht Anna offen darüber, wie es sich anfühlt, von der eigenen Familie verstoßen zu werden, welche inneren Kämpfe sie durchlebt hat und wie sie es geschafft hat, trotz allem ein neues Leben aufzubauen.


Anna, vielen Dank, dass du bereit bist, über dieses schwierige Thema zu sprechen. Was war der Auslöser dafür, dass deine Familie dich verstoßen hat?

Anna:
Der Hauptauslöser war, dass ich mich entschieden habe, einen Weg zu gehen, den meine Familie nicht akzeptieren konnte. Ich komme aus einer sehr konservativen, streng religiösen Familie, und schon immer war ich anders als das, was von mir erwartet wurde. Es fing damit an, dass ich mich gegen das traditionelle Frauenbild, das meine Eltern mir vorlebten, gewehrt habe. Ich wollte studieren, arbeiten und mein eigenes Leben führen – Dinge, die in meiner Familie nicht als „richtig“ angesehen wurden.

Der endgültige Bruch kam, als ich mich in eine Frau verliebte. Für meine Eltern war das unvorstellbar und unvereinbar mit ihren Überzeugungen. Als ich ihnen davon erzählte, hoffte ich, dass sie es zumindest versuchen würden zu verstehen, aber stattdessen wurde ich vor die Wahl gestellt: Entweder ich beende die Beziehung und lebe nach ihren Regeln, oder ich bin nicht länger ihre Tochter. Ich konnte nicht anders, als meinen eigenen Weg zu gehen – auch wenn das bedeutete, sie zu verlieren.

Wie hast du dich gefühlt, als deine Familie den Kontakt abgebrochen hat?

Anna:
Es war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen werden. Ich hatte zwar immer gewusst, dass meine Entscheidungen für meine Familie schwierig sein würden, aber ich hatte gehofft, dass Liebe am Ende stärker sein würde als alles andere. Als sie mir die Tür endgültig zugemacht haben, fühlte ich mich unglaublich verloren. Es war, als hätte ich nicht nur meine Familie, sondern auch einen Teil meiner Identität verloren.

Die erste Zeit nach dem Bruch war die schwerste. Es fühlte sich an, als ob ich in einer endlosen Leere schweben würde. Die Menschen, die mich aufgezogen hatten, die mich eigentlich bedingungslos lieben sollten, hatten mich einfach fallen lassen. Es gab Nächte, in denen ich geweint habe, weil ich nicht verstehen konnte, wie sie so etwas tun konnten. Diese Gedanken von „Warum bin ich nicht genug?“ oder „Was habe ich falsch gemacht?“ waren ständige Begleiter.

Gab es Momente, in denen du dachtest, den Kontakt wieder herstellen zu können?

Anna:
Ja, natürlich. Ich glaube, tief in mir habe ich lange Zeit gehofft, dass sie ihre Meinung ändern, dass sie verstehen, dass ich immer noch ihre Tochter bin – unabhängig davon, wen ich liebe oder wie ich mein Leben führe. In den ersten Monaten habe ich immer wieder versucht, sie anzurufen, habe Nachrichten geschickt und gebettelt, dass wir reden können. Aber die einzige Antwort, die ich bekam, war Schweigen.

Irgendwann wurde mir klar, dass ich aufhören musste, gegen die Mauer zu rennen. Der Schmerz, immer wieder auf Ablehnung zu stoßen, war zu groß. Ich musste lernen, dass ich sie nicht ändern kann, so sehr ich es mir auch wünschte. Das war ein harter Prozess. Es fühlte sich an, als müsste ich mich von der Hoffnung verabschieden, meine Familie jemals wieder zurückzubekommen.

Wie hast du es geschafft, ohne die Unterstützung deiner Familie weiterzumachen?

Anna:
Ehrlich gesagt, weiß ich nicht genau, wie ich es in den ersten Monaten geschafft habe. Es war eine Zeit voller Dunkelheit und Einsamkeit. Aber ich habe gemerkt, dass ich mich auf die Menschen konzentrieren musste, die wirklich hinter mir standen. Meine Freunde wurden zu meiner neuen Familie. Sie haben mich in den schwersten Momenten aufgefangen, mir gezeigt, dass ich nicht allein bin, und mir geholfen, wieder Vertrauen ins Leben zu fassen.

Therapie hat mir auch sehr geholfen. Ich musste lernen, den Schmerz zu verarbeiten und die Wunden zu heilen, die durch den Verlust meiner Familie entstanden sind. Es war nicht nur der Verlust der Beziehung zu meinen Eltern, sondern auch der Verlust der Vorstellung, dass Familie bedingungslos ist. In der Therapie habe ich gelernt, meine Gefühle zu akzeptieren, statt sie zu verdrängen, und ich habe daran gearbeitet, mein Selbstwertgefühl wieder aufzubauen.

Außerdem hat mir meine Beziehung sehr geholfen. Meine Partnerin war in dieser schwierigen Zeit eine unglaubliche Unterstützung. Sie hat mir das Gefühl gegeben, dass ich geliebt und akzeptiert werde, so wie ich bin, und das hat mir die Kraft gegeben, meinen eigenen Weg weiterzugehen, auch wenn es so schmerzhaft war.

Wie fühlst du dich heute, nach all dem, was du durchgemacht hast?

Anna:
Heute bin ich stärker, als ich es jemals war. Es gab Zeiten, in denen ich dachte, ich würde diesen Schmerz nie überwinden, aber jetzt kann ich sagen, dass ich mich von dieser Wunde erholt habe. Das heißt nicht, dass ich nicht immer noch Momente habe, in denen ich meine Familie vermisse. Es gibt Tage, an denen ich mir wünsche, sie könnten sehen, wie glücklich ich bin, oder dass sie an meinem Leben teilhaben. Aber ich habe gelernt, dass ich mein Glück nicht von ihrer Akzeptanz abhängig machen kann.

Ich habe mir ein neues Leben aufgebaut, eines, das mich erfüllt und in dem ich mich frei fühlen kann. Es war ein langer Weg, aber heute weiß ich, dass ich niemandem etwas beweisen muss. Ich habe die Menschen um mich herum, die mich lieben und respektieren, und das ist genug.

Glaubst du, dass es eines Tages eine Versöhnung mit deiner Familie geben könnte?

Anna:
Das ist eine schwierige Frage. Ein Teil von mir hofft immer noch, dass sie eines Tages den Weg zurück zu mir finden. Ich glaube, dass Menschen sich ändern können und dass es möglich ist, dass meine Eltern irgendwann erkennen, dass unsere Unterschiede nicht bedeuten, dass wir uns nicht lieben können. Aber ich habe auch gelernt, diese Hoffnung loszulassen, um nicht ständig in einem Zustand des Wartens zu leben.

Ich bin offen für eine Versöhnung, aber ich weiß auch, dass das nur möglich ist, wenn sie bereit sind, mich so zu akzeptieren, wie ich bin. Es kann keine Bedingungen geben. Wenn dieser Tag kommt, werde ich ihn mit offenen Armen empfangen. Aber bis dahin lebe ich mein Leben, so wie ich es für richtig halte, und ich erlaube mir, ohne sie glücklich zu sein.

Was würdest du anderen Menschen raten, die eine ähnliche Erfahrung machen und von ihrer Familie verstoßen wurden?

Anna:
Der erste Rat, den ich geben würde, ist: Gib dir Zeit, um zu trauern. Der Verlust deiner Familie ist eine Art von Trauer, und es ist okay, diesen Schmerz zu fühlen. Es ist wichtig, die eigenen Gefühle anzuerkennen, statt sie zu unterdrücken. Aber gleichzeitig solltest du wissen, dass dein Wert nicht von der Akzeptanz deiner Familie abhängt. Du bist mehr als die Meinung anderer über dich.

Such dir Unterstützung – ob das durch Freunde, eine Partnerin oder Partner oder eine Therapeutin ist. Niemand sollte diesen Weg allein gehen müssen. Es gibt Menschen, die dich lieben und unterstützen, auch wenn es nicht deine Familie ist.

Und schließlich: Lerne, dich selbst so zu akzeptieren, wie du bist. Es wird nicht leicht sein, aber du verdienst es, glücklich zu sein, unabhängig davon, was andere denken oder erwarten. Du kannst dir deine eigene Familie schaffen, aus den Menschen, die dich bedingungslos lieben und respektieren.

Vielen Dank, Anna, dass du so offen über deine Erfahrungen gesprochen hast.

Anna:
Es war mir wichtig, meine Geschichte zu teilen, weil ich hoffe, dass sie anderen Menschen Mut macht, die ähnliches durchmachen. Man kann auch ohne die Akzeptanz der Familie ein erfülltes Leben führen.


Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:

„Religion soll ja eigentlich verbinden – aber manchmal tut sie das Gegenteil. Wenn man von seiner Familie vor die Wahl gestellt wird, sich selbst zu lieben oder die Familie zu lieben, ist das eine Zerreißprobe. Auf der einen Seite ist da das eigene Ich, das gelebt werden will – auf der anderen Seite steht da die vertraute Umgebung, die dann unweigerlich verloren scheint. Annas Geschichte zeigt uns, wie schmerzhaft es sein kann, von der eigenen Familie verstoßen zu werden, und wie tief diese Wunden sein können. Aber was wäre, wenn sie sich gegen sich und für die Familie entschieden hätte? Auch dann hätte sie gelitten. Wenn man vor einer solchen Entscheidung steht, dann kann es helfen, wenn man sich vorstellt, wo man am Ende seines Lebens stehen möchte. Ich frage Klienten dann gerne, was wohl in einem Interview stehen sollte, dass sie am Ende ihres Lebens einer großen Zeitschrift geben. Das hilft, den eigenen Weg zu finden. Es braucht in jedem Fall Stärke, Mut und Selbstakzeptanz. Auch wenn die Liebe und Unterstützung der Familie fehlt, ist es möglich, einen eigenen Weg zu finden, sich selbst zu lieben und ein erfülltes Leben zu führen – mit Menschen, die einen wirklich unterstützen und respektieren.“

Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.

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