
Ich heiratete mit 22 – und dachte mit 27 schon an Scheidung
“Du bist so jung, du hast noch so viel Zeit”, sagten alle, als ich mit 22 meine Hochzeit plante. Ich lächelte und dachte: “Ihr versteht das nicht. Wir sind anders. Wir lieben uns wirklich.”
Fünf Jahre später saß ich weinend in meinem Auto und googelte “Scheidungsanwalt in meiner Nähe”.
Ich gehöre zu den 17 Prozent der verheirateten Twentysomethings, die schon mal an Scheidung gedacht haben. Und zu den 19 Prozent, die schon mal über Fremdgehen nachgedacht haben. Diese Zahlen kannte ich damals nicht. Ich dachte, ich wäre die Einzige, die in ihrer Ehe unglücklich war.
Der Märchen-Anfang
Tim und ich lernten uns im ersten Semester kennen. Er war mein erster großer Liebe, ich seine. Wir waren unzertrennlich, lebten praktisch zusammen, obwohl wir offiziell noch im Studentenwohnheim wohnten. Nach drei Jahren machte er mir einen Antrag. Mit einem Ring, den er sich vom Mund abgespart hatte. Ich sagte ja, ohne zu zögern. Warum auch nicht? Ich liebte ihn, er liebte mich. Was sollte schon schiefgehen? Die Hochzeit war wunderschön. Klein, aber perfekt. Meine Eltern waren skeptisch – “Ihr seid noch so jung” –, aber sie unterstützten uns. Tims Eltern waren begeistert. “Endlich heiratet mal jemand aus Liebe und nicht aus Vernunft”, sagte seine Mutter.
Die ersten Risse
Die Probleme begannen schleichend. Erst nach der Hochzeit, dann verstärkten sie sich, als wir zusammenzogen. Plötzlich waren wir 24/7 zusammen, und das war… anstrengend. Tim war unordentlich. Extrem unordentlich. Ich nicht. Tim liebte Partys und wollte jeden Freitagabend ausgehen. Ich wurde immer müder von der Arbeit und wollte lieber zu Hause bleiben. Tim wollte Kinder – sofort. Ich wollte erst mal Karriere machen.
“Das sind nur Kleinigkeiten”, dachte ich. “Das kriegen wir hin.”
Aber aus Kleinigkeiten wurden große Kämpfe. Aus “Du könntest mal abwaschen” wurde “Du respektierst mich nicht”. Aus “Lass uns heute zu Hause bleiben” wurde “Du bist langweilig geworden”.
Der Moment der Wahrheit
Es war an einem völlig normalen Dienstagabend. Tim kam spät nach Hause, wieder mal war er “nur kurz” ein Bier trinken gewesen. Es war 23 Uhr. Ich hatte gewartet, das Abendessen war kalt geworden.
“Warum machst du so ein Theater?”, fragte er. “Ich war nur mit den Jungs weg.”
In dem Moment dachte ich zum ersten Mal: “Ich will nicht mehr verheiratet sein.”
Nicht: “Ich will nicht mehr mit Tim verheiratet sein.” Sondern: “Ich will nicht mehr verheiratet sein. Punkt.”
Die Scham
Ich schämte mich für diese Gedanken. Alle anderen schienen so glücklich verheiratet zu sein. Auf Instagram posteten meine Freunde Herzchen-Bilder mit ihren Männern. “So grateful for this one”, “My better half”, “Five years and still my best friend”.
Ich postete auch solche Bilder. Lächelte in die Kamera, während Tim seinen Arm um mich legte. Die Kommentare waren immer dieselben: “Ihr seid so ein süßes Paar”, “Relationship goals”, “Ihr seid perfekt füreinander”.
Wenn sie wüssten, dachte ich. Wenn sie wüssten, dass wir uns am Morgen noch angeschrien hatten. Dass ich in der Nacht auf der Couch geschlafen hatte. Dass ich überlegt hatte, zu meiner Mutter zu fahren und nie zurückzukommen.
Das Teufelsrad
Unsere Kämpfe folgten immer dem gleichen Muster. Ich ärgerte mich über etwas, sagte aber nichts. Tim merkte, dass ich schlecht gelaunt war, fragte aber nicht nach. Die Spannung baute sich auf, bis einer von uns explodierte.
“Warum sagst du mir nicht, was los ist?”, schrie er dann. “Warum siehst du nicht, was los ist?”, schrie ich zurück.
Es war wie ein Teufelskreis. Je schlechter unsere Kommunikation wurde, desto mehr distanzierten wir uns voneinander. Je mehr wir uns distanzierten, desto schlechter wurde unsere Kommunikation.
Sex hatten wir auch kaum noch. Müdigkeit, Stress, schlechte Stimmung – es gab immer einen Grund. Wenn wir Sex hatten, fühlte es sich mechanisch an. Pflichterfüllung statt Leidenschaft.
Die Drohungen
“Dann lass uns doch scheiden!”, schrie ich ihn eines Abends an. Es war das erste Mal, dass ich das Wort aussprach. Tim wurde kreidebleich.
“Das meinst du nicht ernst”, sagte er. “Doch”, sagte ich. “Vielleicht tue ich das.”
Danach benutzten wir das D-Wort regelmäßig. “Dann lass uns scheiden!” wurde unser Totschlagargument bei jedem größeren Streit. 24 Prozent aller jungen Verheirateten haben ihrem Partner schon mal mit Scheidung gedroht. Wir gehörten dazu.
Das Problem: Wenn man ständig mit Scheidung droht, verliert das Wort seine Schärfe. Irgendwann ist es nur noch ein leeres Druckmittel. Aber es ist auch Gift für die Beziehung. Nach jedem “Dann scheiden wir uns halt!” bröckelte ein bisschen mehr Vertrauen weg.
Die Fremdgeh-Fantasien
Mit 26 fing ich an, andere Männer attraktiv zu finden. Richtig attraktiv. Ich fantasierte davon, wie es wäre, mit ihnen zu schlafen. Nicht nur die üblichen Gedanken, die wahrscheinlich jeder verheiratete Mensch mal hat, sondern richtige Fluchtfantasien.
Der Kollege aus der Marketingabteilung, der immer so witzig war. Der Nachbar, der mir beim Tragen der Einkäufe half. Sogar der Barista aus dem Café um die Ecke, der immer lächelte, wenn er mir den Kaffee gab.
Ich flirtete nicht. Ich tat nichts. Aber die Gedanken waren da, und sie machten mir Angst. War das normal? War ich eine schlechte Ehefrau? Oder war meine Ehe kaputt?
Der Wendepunkt
Der Moment, der alles veränderte, war nicht spektakulär. Tim und ich saßen auf der Couch, schauten fern, jeder mit seinem Handy beschäftigt. Plötzlich sah ich uns von außen: Zwei junge Menschen, die sich völlig fremd geworden waren.
“Tim”, sagte ich. “Wir müssen reden.” “Worüber?”, fragte er, ohne vom Handy aufzublicken. “Über uns. Über unsere Ehe. Darüber, dass wir unglücklich sind.”
Er blickte auf. “Bist du unglücklich?” “Ja”, sagte ich. “Und du auch. Das sehe ich dir an.”
Er schwieg lange. Dann sagte er: “Ja. Bin ich auch.”
Die harte Wahrheit
In den nächsten Stunden redeten wir, wie wir seit Monaten nicht mehr geredet hatten. Ehrlich. Ohne Vorwürfe. Ohne Schuldzuweisungen. Wir erkannten: Wir hatten beide versucht, die Menschen zu sein, die wir mit 22 waren. Aber wir waren nicht mehr 22. Wir hatten uns verändert, weiterentwickelt – nur in verschiedene Richtungen.
“Vielleicht”, sagte Tim, “haben wir zu früh geheiratet.” “Vielleicht”, sagte ich, “war das nicht schlimm. Vielleicht war es richtig für damals.”
Der neue Anfang
Wir entschieden uns, es noch einmal zu versuchen. Aber anders. Mit neuen Regeln, besserer Kommunikation, mehr Ehrlichkeit. Wir gingen zur Paartherapie. Das war am Anfang peinlich – wer geht mit 27 schon zur Paartherapie? – aber es half. Wir lernten zu streiten, ohne uns zu verletzen. Wir lernten, unsere Bedürfnisse zu äußern, ohne zu fordern. Es war harte Arbeit. Manche Tage wollte ich immer noch weglaufen. Aber langsam wurde es besser.
Was ich heute weiß
Heute bin ich 31, und Tim und ich sind immer noch verheiratet. Glücklich verheiratet? Die meiste Zeit, ja. Aber ich weiß jetzt: Glück ist nicht der Dauerzustand einer Ehe. Eine Ehe ist Arbeit. Jeden Tag.
Ich weiß auch: Es ist völlig normal, an Scheidung zu denken. 93 Prozent aller jungen Verheirateten beschreiben ihre Ehe als glücklich – aber 17 Prozent haben trotzdem schon mal an Scheidung gedacht. Das ist kein Widerspruch. Das ist menschlich.
Was ich anderen jungen Paaren sagen würde
Heiratet nicht, weil ihr denkt, ihr müsst. Heiratet nicht, weil alle anderen es tun. Heiratet nicht, um eure Beziehung zu retten. Aber wenn ihr heiratet: Seid ehrlich zueinander. Redet über alles. Auch über die schwierigen Sachen. Auch über eure Zweifel. Und habt keine Angst vor der Paartherapie. Sie ist kein Zeichen des Scheiterns. Sie ist ein Zeichen dafür, dass ihr kämpfen wollt.
Die Wahrheit über junge Ehen
Junge Ehen sind nicht automatisch zum Scheitern verurteilt. Aber sie sind anders als Ehen, die später geschlossen werden. Man wächst noch, verändert sich noch. Das kann eine Chance sein – wenn beide Partner bereit sind, gemeinsam zu wachsen.
52 Prozent aller jungen Verheirateten haben in den letzten drei Monaten wegen ihres Partners geweint. Das hört sich dramatisch an, aber vielleicht ist es auch nur ehrlich. Vielleicht sind ältere Paare einfach abgestumpfter.
Würde ich heute noch einmal mit 22 heiraten?
Wahrscheinlich nicht. Ich würde warten, bis ich besser weiß, wer ich bin und was ich will.
Bereue ich es, dass ich es getan habe? Nein. Diese schweren Jahre haben mich zu der Person gemacht, die ich heute bin. Sie haben Tim und mich zu dem Paar gemacht, das wir heute sind.
Wir haben gelernt, dass Liebe nicht reicht. Dass man auch kompatibel sein muss. Dass man kommunizieren können muss. Dass man bereit sein muss, sich selbst und den anderen immer wieder neu kennenzulernen.
Das sind Lektionen, die man in jeder Lebensphase lernen kann. Wir haben sie eben mit 22 bis 27 gelernt. Der harte Weg, aber unser Weg.