Gesundheit

Gehtraining in meinem Tempo

Mein Leben mit MS:

Hallo und herzlich willkommen bei MS-Voices! Ich bin Irene, und hier dreht sich alles um das Leben mit Multipler Sklerose (MS). Als ich vor einigen Jahren die Diagnose erhielt, hat sich mein Alltag auf den Kopf gestellt – und ich war plötzlich mit unzähligen Fragen, Ängsten und Herausforderungen konfrontiert. In diesem Blog möchte ich meine persönlichen Erfahrungen mit euch teilen und Menschen eine Stimme geben, die unter MS leiden. Wie ist das wirklich, mit MS zu leben? Wie verändert es den Alltag, die Beziehungen und die Zukunftsplanung? Hier gibt es ehrliche Einblicke, praktische Tipps und die ein oder andere Anekdote aus meinem Leben – direkt aus dem Herzen einer Betroffenen.

Inspiration durch andere: MS und sportliche Leistungen

Ich finde die Berichte immer wieder toll, von MSlern, die einen Marathon oder gelaufen sind, einen Triathlon gemeistert haben, oder eine große Radtour von Land A nach B oder von mir aus quer durch Deutschland absolviert haben, obwohl man eigentlich denkt, dass es der augenscheinliche Zustand gar nicht zulassen würde, da die Einschränkung in Beinen oder dem Gleichgewicht einfach zu hoch sind. Wenn man sieht, dass der- oder diejenige im Alltag einen Rollator oder Stock als Gehhilfe benutzt.

Ein Film über MS und den langen Weg zur Diagnose

Trotzdem hört oder liest man das immer wieder mal.  Vor kurzem habe ich einen Film dazu gesehen; ein Film, nach einer wahren Geschichte „100 Meter“. Inhalt: Ein spanischer Mann erhält die Diagnose Multiple Sklerose, begleitet mit der Aussage der Ärzte, dass er nicht mehr im Stande sein wird, auch nur 100 Meter zu gehen. Daraufhin beschließt er, mit Unterstützung seines mürrischen Schwiegervaters, für einen Ironman-Triathlon zu trainieren. Aus nicht einmal 100 Meter Gehen wächst das Ziel zu 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42 Kilometer Laufen.

Der Film ist übrigens großartig und ich empfehle ihn jedem, der nicht weiß, wie sich MS anfühlen kann. Alleine schon der Weg zur Diagnose; wie man sich bzw. wie sich der Körper verändert. Wie andere einen plötzlich nicht mehr verstehen, weil sie nicht wissen, was mit einem los ist. Wobei man es selbst doch am allerwenigsten weiß. Man spürt nur, dass man auf einmal „anders“ ist.
Nun ja, ich will nicht spoilern; schaut euch den Film am besten selbst an. Ich habe mehr als einmal geweint, weil ich mich mit meinem Gefühlsleben des Mannes in diesem Film identifizieren konnte.

Fakt ist aber, dass diese großartige Leistung, als MSler einen Marathon bzw. in diesem Falle einen Triathlon zu absolvieren, nur den allerwenigsten zuteil wird. Und ich denke, dass man das immer wieder betonen muss, weil sonst (von Nichtbetroffenen) gerne gesagt wird: „Schau dir den mal an; der ist sogar einen Marathon gelaufen“!
Ja, diese Nichtbetroffenen meinen es meistens gut und sie wollen einen damit motivieren. Allerdings gelingt es nicht, eine echte Behinderung durch komplett zerstörte Nervenbahnen weg zu trainieren. Diese (gutgemeinte) Motivation entwickelt sich dann oft zu dem schlechten Gefühl, nicht mehr gut genug zu sein, sowohl für sich selbst als auch für sein Umfeld.

Die eigene Geh-Strategie entwickeln: Mein persönliches Training

Ich habe mein eigenes Gehtraining entwickelt. Erstaunlicherweise habe ich es vor zwei Jahren damit geschafft, drei bis viermal pro Woche zwischen fünf, zehn und sogar 12 Kilometern am Stück und ohne Hilfsmittel zurückzulegen. Das war unter dem Medikament Mayzent; da ging es mir körperlich echt gut. Meine Güte: Ich war so unglaublich stolz auf mich! ICH, die einige Jahre zuvor, aufgrund eines Schubes, für ein paar Wochen im Rollstuhl gesessen hat, ist auf einmal für eine ganze Weile auf ihren eigenen Beinen unterwegs!
Aber dann musste ich die Therapie umstellen, weil meine Blutwerte unter Mayzent absolut inakzeptabel geworden sind. Dazu hatte ich noch einen Schub, der mal wieder eine Kortison-Stoßtherapie, mit allem, was sie so zu bieten hat, nach sich gezogen hat. Ich wurde auf Ocrevus umgestellt, was mir nicht nur die übelsten Nebenwirkungen eingebracht hat, sondern sich auch auf meine Mobilität ausgewirkt hat. Meine Gehstrecke (ohne Hilfsmittel) beträgt manchmal nur noch 1000 Meter – auf den Tag verteilt. Naja, und mein Seelchen hatte im letzten Jahr auch keine gute Zeit. Ich habe zu sehr dem hinterher getrauert, was ich nicht mehr kann. Dabei gibt es doch so viel mehr, was ich noch kann! Und in der letzten, schlaflosen Nacht habe ich beschlossen, wieder auszutesten, was noch geht – zumindest erstmal, was meine Gehstrecke betrifft.

Und deswegen werde ich mein selbst entwickeltes Gehtraining wieder aufnehmen!

Mein Schrittziel und der Antrieb dahinter

Mein Schrittziel sind 8.519 Schritte pro Tag. Warum diese krumme Zahl? Weil ich meinen Jens am 8.5.19 kennengelernt habe. 8.519 Schritte entsprechen, bei meiner Schrittlänge von rund 60 Zentimetern, etwas mehr als fünf Kilometer. Mir reicht es vorerst mal, wenn ich das wieder am Tag schaffe. Ich werde also wieder trainieren. Ganz für mich; ich will nicht, dass mich jemand dabei beobachtet. 

Gehtraining zu Hause: Sicher und strukturiert

  • Wo fange ich mit dem Training an?
  • Zuhause; in meiner Wohnung. 
  • Wer unterstützt mich?
  • Mein Wille, Musik und meine Smartwatch. 

Mein Wille ist stark (ich bin schließlich Stier und ich verfolge meine Ziele hartnäckig und stur). Meine „Workout“ – Playlist, ist gefüllt mit Liedern, die meinen Schritten einen guten Rhythmus bieten. Meine Smartwatch ist so programmiert, dass sie mir, zu den festgelegten Zeitrahmen signalisiert, dass es Zeit ist für mein Training. 

An meinen freien Tagen (Montag, Freitag und Samstag – Sonntag ist wirklich frei), ziehe ich dann meine Bahnen. Vom Badezimmer bis ins Schlafzimmer und wieder zurück. Hier, in der Wohnung, fühle ich mich sicher. Keine Unebenheiten im Boden und ich kann mich im Bedarfsfall entsprechend festhalten. Eine Strecke beträgt 37 Schritte. Das mache ich zehn Mal am Stück, 370 Schritte, im Rhythmus der Musik. Je nach Tagesform sind das drei bis fünf Minuten. Und weil ich mir dann oft denke, dass ich sowieso nichts anderes Wichtiges zu tun habe, verlängere ich das Ganze auf 30 Bahnen. Rund zehn bis 15 Minuten. Rund 1.110 Schritte. Das ganze mache ich dann jedes Mal, wenn meine Smartwatch mich an meinen Plan erinnert. Sechs bis sieben mal pro Trainingstag. Zusammen mit den normalen Schritten, die man so macht, komme ich locker auf meine 8.519 Schritte. Meistens sind es mehr und dann packt mich der Ehrgeiz und ich gehe weitere Schritte, bis ich die vielgerühmten und zitierten 10.000 Schritte pro Trainingstag zusammen habe.

Den Radius erweitern: Von der Wohnung nach draußen

Sobald ich mich in dieser Strecke sicher fühle, erweitere ich mein Territorium außerhalb der Wohnung. Ich gehe um den Häuserblock, der sich direkt neben meiner Wohnung befindet. Eine Runde umfasst etwa 125 Meter auf Asphalt und Pflastersteinen. Hier muss ich erstmal aufpassen, dass ich meinen rechten Fuß ordentlich aufsetze, indem ich eine Fußhebeschwäche habe. Diese Runden steigere ich so lange, bis ich zehn Runden schaffe ohne zu stürzen. 1.250 Meter.

Habe ich das geschafft, erweitere ich meine Runde immer weiter. Erst um die größere Runde mit 400 Metern. Wenn ich das fünf mal geschafft habe, ohne nennenswerte Probleme, erweitere ich meinen Radius wieder. In den kleinen Park auf der einen Seite; zu der Pferdekoppel und einem weiteren Park auf der anderen Seite.

Ein Gefühl von Freiheit: Die Schönheit des Morgens erleben

Irgendwann bin ich dann wieder so weit, dass ich mindestens fünf Kilometer am Stück schaffe. Und das macht mich unglaublich stolz. Diese Freiheit zu haben, zu entscheiden, dass ich in den kleinen Park gehen kann, um da zu entspannen, den Eichhörnchen zuzusehen und dann eigenständig wieder nach Hause zu kommen. Die Freiheit, keine Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Die Freiheit, die schönen Momente genießen zu können, denn ich drehe meine Runden am liebsten gleich morgens nach dem Aufstehen; gerne in der Zeit, in der die Sonne aufgeht.

Sicherheitsmaßnahmen für mein Gehtraining draußen

Aus Sicherheitsgründen gehe ich immer nur Strecken, auf denen ich gesehen werde. Stecken, die für Hunde-Gassi-Runden genutzt oder von Joggern frequentiert werden, damit man mich findet, falls ich mal ganz blöd gestürzt sein sollte oder meine Beine versagen. Das kommt durchaus auch vor. Deswegen immer dabei: Meine Smartwatch sowieso, die mit einer Sturzerkennung ausgerüstet ist (der Notruf geht dann an meine Cousine, die mich ggf. wieder einsammelt) und mein Handy. Dazu noch mein Fahrausweis, damit ich mit dem Bus wieder zurückfahren kann, wenn ich merke, dass ich mich mit der Strecke übernommen habe.

Warum ich mein Gehtraining fortsetze

Wann fange ich mit meinem Gehtraining an? Jetzt gleich, nachdem ich das hier fertig geschrieben habe. 

Und warum das Ganze? Um ein Stück Freiheit zu haben. Um den Sonnenaufgang im Herbst über dem freien Feld zu sehen. Um mich am bunten Laub im Wald zu erfreuen. Um am schönen kleinen Tümpel im Wald innezuhalten und den Enten zuzusehen, die dort ihre Bahnen drehen.

Es gibt mir Kraft…

Welche Strategien für mehr Kraft im Alltag hast du entwickelt?

Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, diesen Beitrag zu lesen! Ich hoffe, dass meine Erfahrungen dir ein Stück Klarheit oder Ermutigung schenken konnten. Als ich die Diagnose MS bekam, fühlte ich mich oft allein und überfordert. Genau deshalb habe ich ein Buch geschrieben, das ich selbst damals so dringend gebraucht hätte. „Spring, damit du fliegen kannst.: Ein Selbsthilfe-Ratgeber für MS-Erkrankte und ihre Angehörigen.“ Es ist bei Minerva-Vision erschienen. Wenn du Interesse hast, schau es dir gerne an – vielleicht ist es genau das, was auch dir weiterhelfen kann. Oder hör dir meinen Podcast „MS-Voices“ an. Bis zum nächsten Mal!

Du hast auch MS und möchtest mit mir in meinem Podcast darüber sprechen? Dann schreib mir eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.


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