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“Für die Sophie reicht aber ein Butterbrot” – Wie ich lernte, mit meiner Tochter über Körperbilder zu sprechen

Von Katharina Wagener

Ich werde diesen Moment nie vergessen. Wir stehen in der Kinderarztpraxis, meine achtjährige Sophie und ich, und dieser Mann in seinem weißen Kittel sagt zu mir, als wäre meine Tochter gar nicht da: “Für die Sophie reicht aber ein Butterbrot. Und ja, sie ist ein Moppel.”

Ein Moppel. Meine Sophie. Mein wunderbares, kluges, fröhliches Kind.

Ich sehe, wie sich etwas in ihrem Gesicht verändert. Wie sie sich kleiner macht, ihre Schultern nach vorne zieht. In diesem Moment hätte ich diesem Arzt am liebsten seine Stethoskop um den Hals gewickelt. Stattdessen lächle ich höflich, sage “Danke, Herr Doktor” und nehme meine Tochter an die Hand.

Der Moment, in dem mir klar wird: Ich muss handeln

Im Auto ist Sophie ungewöhnlich still. Normalerweise plappert sie nach dem Arztbesuch wie ein Wasserfall – was der Doktor gesagt hat, wie das Stethoskop kalt war, warum die Wartezimmer-Zeitschriften so langweilig sind. Heute nicht.

“Mama”, sagt sie schließlich, “bin ich zu dick?”

Mein Herz bricht ein bisschen. Wie erkläre ich einer Achtjährigen, dass Erwachsene manchmal dumme, verletzende Dinge sagen? Dass ihr Körper perfekt ist, so wie er ist? Dass dieser Arzt ein Idiot war?

Ich parke den Wagen am Straßenrand und drehe mich zu ihr um.

Was ich nicht sagen will (aber fast gesagt hätte)

Fast wären mir die Worte rausgerutscht: “Du bist nicht dick, Schatz. Du bist wunderschön.” Aber dann halte ich inne. Denn damit würde ich ihr sagen, dass dünn sein wichtig ist. Dass dick sein schlecht wäre. Dass ihr Aussehen das Wichtigste an ihr ist.

Stattdessen sage ich: “Sophie, weißt du, was ich an deinem Körper am tollsten finde? Dass er dich jeden Tag trägt. Dass du damit klettern kannst wie ein Äffchen, rennen wie der Wind und die besten Umarmungen der Welt geben kannst.”

Sie lächelt ein kleines Lächeln.


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Die Wahrheit über Ärzte und andere Erwachsene

“Sophie”, sage ich, “auch Erwachsene machen manchmal Fehler. Auch Ärzte sagen manchmal dumme Sachen. Das heißt nicht, dass sie recht haben.”

Ihre Augen werden groß. Für sie sind Erwachsene noch Autoritäten, die immer recht haben. Aber ich möchte, dass sie lernt: Man darf sich wehren. Auch gegen Erwachsene.

“Du darfst jedem sagen, wenn dir nicht gefällt, wie er über deinen Körper spricht. Auch Ärzten. Du kannst sagen: ‘Das ist nicht nett’ oder ‘Das möchte ich nicht hören.'”

Meine eigenen Dämonen

Zuhause denke ich nach. Wie oft habe ich mich vor dem Spiegel beschimpft? “Ach, dieser Bauch!”, “Diese Schenkel!”, “Ich bin so fett!” Kinder hören alles. Sophie hat gelernt, dass Frauen sich über ihre Körper beschweren. Von mir.

Das muss aufhören. Ich beschließe: Keine negativen Kommentare mehr über meinen Körper. Nicht vor Sophie. Eigentlich überhaupt nicht mehr.

Fernsehen wird anders

Abends schauen wir eine Kindersendung. Mir fällt auf: Alle Figuren sind dünn. Perfekt. Unrealistisch dünn.

“Sophie”, sage ich, “fällt dir was auf bei den Menschen im Fernsehen?”

Sie schaut genauer hin. “Die sind alle sehr dünn?”

“Genau. Und siehst du Menschen, die so aussehen wie wir? Oder wie Oma? Oder wie deine Lehrerin?”

Sie schüttelt den Kopf.

“Das ist nicht normal”, erkläre ich. “Echte Menschen sehen ganz unterschiedlich aus. Groß, klein, dünn, kräftig – und alle sind okay.”

Die Sache mit dem Essen

Sophie fragt mich ein paar Tage später: “Mama, soll ich weniger essen? Damit ich nicht mehr ein Moppel bin?”

Mir wird schlecht. Dieser verdammte Arzt!

“Sophie, dein Körper braucht Essen. Genau wie ein Auto Benzin braucht. Verschiedenes Essen für verschiedene Sachen. Brot gibt dir Energie, Milch macht deine Knochen stark, Äpfel helfen deinem Körper, gesund zu bleiben.”

Ich vermeide bewusst Wörter wie “gesund” und “ungesund” beim Essen. Stattdessen erkläre ich: “Manche Sachen essen wir oft, weil sie unserem Körper viel geben. Andere essen wir seltener, weil sie hauptsächlich lecker sind und Spaß machen.”

Was ich von anderen Müttern lerne

Ich erzähle meiner Freundin Anna von dem Arzttermin. Sie nickt wissend.

“Bei Lisa war es die Lehrerin”, sagt sie. “Hat vor der ganzen Klasse gesagt, Lisa solle weniger naschen. Lisa war neun und hat danach wochenlang ihr Pausenbrot weggeworfen.”

Wir sind nicht allein mit diesem Problem. Überall bekommen Kinder zu hören, dass ihr Körper falsch ist. Von Ärzten, Lehrern, anderen Kindern. Manchmal sogar von wohlmeinenden Großeltern.

Neue Strategien entwickeln

Sophie und ich üben Antworten für solche Situationen:

“Das ist nicht okay, so über meinen Körper zu sprechen.” “Ich mag meinen Körper, so wie er ist.” “Das ist nicht nett.”

Manchmal reicht es auch, einfach wegzugehen oder das Thema zu wechseln. Sophie muss nicht jeden Kommentar kommentieren. Aber sie soll wissen: Sie hat das Recht, sich zu wehren.

Der lange Weg

Ich weiß, dass ein Gespräch nicht reicht. Sophie wird ihr Leben lang mit Kommentaren über Körper konfrontiert werden. In der Schule, in den Medien, vielleicht sogar von Freundinnen.

Aber ich kann ihr eine starke innere Stimme mitgeben. Eine Stimme, die sagt: “Ich bin wertvoll, so wie ich bin. Mein Wert hängt nicht davon ab, wie ich aussehe.”

Was ich heute anders mache

Ich beschreibe Menschen nicht mehr über ihr Aussehen. Statt “Die neue Nachbarin ist sehr hübsch” sage ich “Die neue Nachbarin ist sehr freundlich.”

Ich lobe Sophie für das, was sie tut und wie sie ist. “Du hilfst so gerne anderen”, “Du hast so tolle Ideen”, “Du bist so mutig.”

Und ich achte darauf, wie ich über meinen eigenen Körper spreche. Sophie soll lernen: Frauen können ihren Körper respektieren und wertschätzen.

Der nächste Arzttermin

Vor unserem nächsten Kinderarzttermin bin ich nervös. Aber diesmal bin ich vorbereitet.

Als der Arzt wieder anfängt, über Sophies Gewicht zu sprechen, unterbreche ich ihn: “Herr Doktor, ich möchte nicht, dass Sie vor meiner Tochter über ihr Gewicht sprechen. Falls Sie medizinische Bedenken haben, können wir das unter vier Augen besprechen.”

Sophie schaut mich bewundernd an. Ihre Mama hat sich für sie eingesetzt. Gegen eine Autorität.

Was ich gelernt habe

Meine wichtigste Aufgabe ist nicht, Sophie vor allen negativen Botschaften zu beschützen – das ist unmöglich. Meine Aufgabe ist es, ihr eine starke, liebevolle Gegenstimme zu sein.

Eine Stimme, die ihr sagt: Du bist wunderbar, so wie du bist. Dein Wert liegt nicht in deinem Aussehen. Du verdienst Respekt – von Ärzten, von Lehrern, von allen.

Diese innere Stimme wird sie ihr Leben lang begleiten. Und wenn sie stark genug ist, wird sie alle anderen Stimmen übertönen, die ihr etwas anderes einreden wollen.

Sophie ist übrigens immer noch kein “Moppel”. Sie ist ein wunderbares, selbstbewusstes Kind. Und das ist das Einzige, was zählt.


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