Brustkrebs: „Ich habe zuerst meinen Freundinnen davon erzählt, meinem Mann erst Wochen später….
Erzähl mir dein Leben:
„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.
… und jetzt habe ich keine Angst mehr. Vor gar nichts!”
Nathalie (38) erzählt, wie die Diagnose Brustkrebs ihr Leben aus der Bahn warf – und wie sie durch ihre Krankheit eine neue Kraft in sich entdeckte.
Als Nathalie Berger vor drei Jahren von ihrer Diagnose erfuhr, stand ihr Leben plötzlich still. Mit zwei kleinen Kindern, einem fordernden Job und einem Alltag, der bis ins Detail durchgeplant war, hatte sie nie gedacht, dass sie einmal gezwungen sein würde, alles zu hinterfragen. Heute blickt sie mit einer beeindruckenden Ruhe und Klarheit auf diese Zeit zurück – und erzählt uns, wie sie zurück ins Leben fand.
Redaktion: Nathalie, kannst du uns erzählen, wie es war, als du die Diagnose erhalten hast?
Nathalie: Es war, als würde jemand plötzlich die Welt unter meinen Füßen wegziehen. Ich war 35 Jahre alt, gerade mitten im Leben. Mein Mann und ich hatten zwei kleine Kinder, und ich dachte, ich wäre gesund. Der Knoten, den ich unter der Dusche gespürt hatte, war für mich anfangs keine große Sache. Ich habe einen Termin bei der Frauenärztin gemacht, und erinnere mich daran, wie sie mich ansah. Geweitete Augen, sichtlich erschrocken. Ich bekam sofort eine Überweisung zur Mammographie schickte. Dort wurde ich offensichtlich erwartet. Denn mich übernahm der Chefarzt persönlich. Ich habe das zwar alles registriert, aber irgendwie nicht gespürt. Als würde ich mir selbst zusehen. Dann kam der nächste Schritt: die Biopsie. Ein kleiner Eingriff, ambulant. Bis dahin war ich extrem ruhig und bin davon ausgegangen, dass alles gut wird. So, wie immer. Dann kam der Befund, der eine OP empfahl, da radiäres Gewebe gefunden wurde. Die Vorstufe von Krebs. Ich erinnere mich, dass ich stundenlang einfach nur da saß und versuchte, zu verstehen, was das für mich bedeutet.
Redaktion: Wie hast du es geschafft, nach diesem Schock wieder einen klaren Kopf zu bekommen?
Nathalie: Den hatte ich die ganze Zeit. Mein Kopf hat immer funktioniert. Meine Gefühle sind nur nicht mitgekommen. Und das ist irgendwie auch rückblickend ein ganz merkwürdiges Gefühl. Ich wusste genau, was gut für mich war und wie ich mich am Besten verhalten hatte – aber ich war wie ferngesteuert. Ich habe zunächst meinen Kindern nichts gesagt, weil ich sie nicht ängstigen wollte. Und auch meinem Mann nicht. Ich hatte Angst davor, wie er reagieren könnte. Er ist da emotional sehr unbeholfen. Wahrscheinlich hätte er extremes Mitleid gezeigt, und das wollte ich nicht. Es hätte mir in dem Moment nicht gut getan. Und er hätte auch Angst gehabt – um mich, aber auch um sich und die Kinder und auch das hätte ich nicht brauchen können. Das war mir komischerweise glasklar. Stattdessen habe ich mit zwei engen Freundinnen gesprochen. Eine von ihnen ist Ärztin und konnte mir medizinisch alles genau erklären. Das hat mir geholfen, die Fakten zu verstehen und eine erste Klarheit zu gewinnen. Meine andere Freundin arbeitet in einem Hospiz. Sie ist unglaublich stark und ich wusste, dass sie mir Mut machen würde. Sie hat gesagt: “Nathalie, wir werden das schaffen. Wenn du mich brauchst, dann bin ich da.”
Redaktion: Was hast du danach unternommen?
Nathalie: Ich wusste, dass ich körperlich und mental stark sein musste. Und dann stieg da in mir riesige Welle an Wut auf. Warum ich? Ich hab nämlich schon so einiges im Leben durchgemacht. Und so sollte ich nun abtreten? Ich dampfte förmlich vor Wut, konnte kaum atmen, fing an zu schwitzen. Dabei war es eine eher besinnliche Zeit, es war kurz vor Weihnachten. Das kam dann auch noch hinzu. Die OP sollte im Januar stattfinden, und ich musste irgendwie über die Weihnachtstage kommen. Also habe ich mir eine Yogalehrerin gesucht, die auf Brustkrebs spezialisiert ist. Ich habe im Internet recherchiert – und prompt jemanden gefunden. Ich schickte eine Mail, schilderte die Umstände und bat um dringliche Einzelstunden. Die Frau fuhr glücklicherweise nicht in Urlaub und machte für mich eine Ausnahme von ihrem Urlaub. Sie empfing mich und war zuerst ganz vorsichtig. Wahrscheinlich war sie auf Tränen und Kummer vorbereitet. Stattdessen marschierte ich da rein, schnaubend wie ein wilder Stier und sagte, wie wütend ich sei – und dass ich nun die Zeit bis zur OP irgendwie friedlich überstehen muss. Sie war vollkommen überrascht, aber sie fand das total gut und kraftvoll. Sie konnte sofort auf mich eingehen, ich bekam Atem- und Dehnübungen – und das hat mir sehr geholfen. Erst dann, als ich mental stabil war, habe ich mit meinem Mann gesprochen. Er reagierte wie erwartet, wollte nichts Falsches sagen und war wie erstarrt. Aber dann stand er an meiner Seite, ging mit ins Krankenhaus und war sofort nach der OP für mich da. Die verlief sehr gut. Ich habe der Ärztin gesagt, sie solle lieber zuviel wegschneiden, als zuwenig. Hat sie auch gemacht, aber die Brust ist erhalten geblieben.
Redaktion: Was bedeutete das konkret für deinen weiteren Weg?
Nathalie: Nach der OP konnte ich wieder aktiv werden. Man hat mir erklärt, dass der Krebs in einem frühen Stadium entdeckt wurde und die Heilungschancen gut stehen. Das gab mir Hoffnung. Nach der OP stellte sich heraus, dass ich keine Chemo brauchte. Glück gehabt. Aber ich habe eine höhere Anfälligkeit für Krebs generell und nehme nun an jeder Vorsorge teil. Ich habe die Ernährung umgestellt und esse heute überwiegend Gemüse. Wenig Obst, wenig Zucker, wenig Fleisch. Gegen Entzündungen nehme ich täglich Fischöl-Kapseln ein. Viele aus meiner Umgebung wissen nichts von meiner Erkrankung. Meine Kinder wissen bis heute nichts davon.
Redaktion: Was war die größte Herausforderung während dieser Zeit?
Nathalie: Ich bin irgendwie durch diese Zeit geglitten. Wie im Roboter-Modus. Ich habe perfekt funktioniert. Ich hatte sogar Pläne für meinen Tod! Ganz konkrete! Wir haben früher sehr einsam gewohnt und ich dachte, hier kommt mein Mann mit den Kindern nicht alleine zurecht. Wie durch ein Wunder wurde ein Haus in der Nähe meiner Eltern und Schwiegereltern frei und wir sind dann tatsächlich kurzfristig umgezogen. Das lief alles geradezu unheimlich gut. Und ich habe Briefe geschrieben an die Kinder – für jedes Jahr einen. Die hätten sie später bekommen. Da war gar keine Zeit für Trauer oder Schock. Die Probleme kamen später. Als alles gut war. Ich war so erschöpft – ich konnte mich erst gar nicht mehr bewegen. Ein Beispiel: ich wollte meine Fußnägel schneiden -und ich schaffte es einfach eine Woche lang nicht, die Kraft dafür zu finden. So kaputt war ich.
Redaktion: Was hat dir dann geholfen?
Nathalie: Eine Auszeit. Ich habe ein halbes Jahr lang gar nichts gemacht. Ich bin morgens mit dem Hund gegangen und daß nachmittags auf der Couch und habe versucht, aufzuhören zu zittern. Klar, mein Mann fand das so “durchwachsen”. Er konnte es verstehen, aber er musste nun alleine arbeiten und das war für ihn irgendwie “ungerecht”. Kann ich verstehen. Aber es ging einfach nicht anders. Und dann habe ich eine Therapie gemacht. Im Gespräch mit dem Therapeuten habe ich erkannt, dass ich mich auch in der Krankheit zuerst um andere gekümmert habe, auch „formal“ um meinen Körper – aber nicht um mich. Der Schock war zu groß, meine Seele kam irgendwie nicht mehr mit. Es hat Zeit gedauert, bis ich das realisieren konnte. Ich hatte auch Angst vor dem Tod.
Redaktion: Wie hast du das denn lösen können? Ich glaube, jeder von uns hat sie.
Nathalie: Ich bin ja eher pragmatisch unterwegs und habe eine Hypnose gemacht. Ich bin in dieser Hypnose „gestorben“. Es war nicht geplant – ich bin eigentlich zu meiner größten Angst gereist und das war offensichtlich eben die, zu sterben. Ich erinnere mich an diesen Kampf. Ich habe gekrampft, bevor ich loslassen konnte und danach hatte ich ein so tiefes und erfüllendes Gefühl von Verbundenheit und Liebe. Ich war durchströmt von Licht, wurde vorne im Brustkorb ganz weit – noch niemals zuvor habe ich mich so glückselig gefühlt. Von dort nahm ich die Gewissheit mit, dass es nichts gibt, vor dem wir Angst haben müssen. Ich bin überzeugt, dass für jeden von uns gesorgt ist.
Redaktion: Was möchtest du anderen Frauen in einer ähnlichen Situation mit auf den Weg geben?
Nathalie: Oh, das ist schwer zu sagen. Jeder Mensch ist anders und das, was für mich gepasst hat, muss ja für andere nicht genauso sein. Eine Krankheit ist immer eine Chance, die Weichen fürs Leben neu zu stellen. Hört in euch hinein und folgt eurer inneren Stimme – ganz egal, wohin sie auch führt. Lasst euch nicht von anderen einreden, es ginge nicht. Ich habe einen Umzug gestemmt in der Zeit. Später habe ich meine Arbeitszeit reduziert. Ich habe angefangen, zu nähen und hätte vorher nicht gedacht, dass mich das Hobby so erfüllen würde. Es gibt einen Handarbeitskreis bei uns im Ort. Früher hätte ich darüber gelacht, heute gehe ich jede Woche gerne hin. Jeder näht für sich, aber wir sind dennoch miteinander zusammen. Das macht mich glücklich. Und ich habe ja auch diese Hypnose gemacht – hätte ich mich sonst nicht getraut. Die Chance vom Krebs, oder auch von jeder anderen Krankheit besteht darin, dass man nichts mehr zu verlieren hat. Und dann traust du dich einfach alles. Und darin liegt vielleicht auch die Chance. Heute lebe ich ohne Angst. Was soll mir denn jetzt bitteschön noch passieren? Und das ist mehr, als viele andere haben.
Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:
Du weißt nicht, wann deine letzte Stunde schlägt.
Nathalie hat das erlebt, war wir als „Sterblichkeitsparadoxon“ beschreiben: Es geht darum, dass wir alle so leben, als würden wir ewig leben, obwohl wir wissen, dass wir sterben werden. Die meisten Menschen können oder wollen sich ihren eigenen Tod nicht vorstellen. Es ist eben das Ende und niemand weiß, was dann kommt. Also verleugnen wir ihn. Klappe zu und weg damit. Es ist natürlich paradox und genau darum geht es: Einerseits wissen wir, dass der Tod unausweichlich ist. Andererseits können wir uns nicht vorstellen, nicht zu existieren. Das merkt man im Übrigen daran, dass der Tod in Krimis alltäglich im Fernsehen stattfindet und auf uns eine merkwürdige Faszination ausübt: hin- und hergerissen zwischen Abwehr und Annahme konfrontieren wir uns mit DEM großen Lebensthema überhaupt: der Vergänglichkeit.
Das Ausmaß der Angst hängt häufig mit dem Glauben der jeweiligen Betroffenen an das Jenseits zusammen. Viele finden Trost und Halt in einer Religion, weil sie Hoffnung gibt. Das jemand wie Nathalie sich Gewissheit durch eine Hypnose holt, habe ich offen gestanden noch nie gehört. Diese extrem pragmatische Haltung zieht sich ja auch durch Nathalies ganze Geschichte. Und das ist bemerkenswert, weil es so gut funktioniert. Wahrscheinlich täte uns weniger Drama und mehr Logik durchaus gut, um glücklich zu werden.
Auf eine Sache möchte ich deshalb nochmal genauer eingehen: Sie hat nicht direkt ihrem Mann von der Diagnose erzählt, sondern bewusst zwei Freundinnen ausgewählt, die ihr in dieser Situation die Unterstützung geben konnten, die sie wirklich brauchte. Keine falschen Tröster, keine überfordernden Emotionen, sondern sachliche Informationen von einer Ärztin und ermutigende Worte von einer Freundin, die mit Sterben und Leben gleichermaßen vertraut war. Kein Therapeut hätte zu besserem raten können. Viele hinterfragen nun vielleicht in dieser Situation die Qualität der Paarbeziehung. Sich in Phasen der Hilflosigkeit am Partner anzulehnen, erscheint uns doch als die normalste Sache der Welt. Aber das ist oft romantisch verklärt – in der Realität ist es eben nicht immer so. Oft können uns die Personen, die uns am nächsten stehen, nicht das geben, war wir gerade brauchen. Denn weil sie uns lieben und nicht ohne uns sein wollen, haben sie doch die meiste Angst um uns – und das überstrahlt dann ihre Handlungen.
Nathalie hat sich also ihre Kraftquellen absolut „psycho-logisch“ ausgesucht und es hat ja auch bestens funktioniert. Ich habe das schon einige Male miterleben dürfen: In den dunkelsten Momenten unseres Lebens, wenn alles auseinanderzufallen scheint, findet man zu seinem inneren Kern und weiß glasklar, was gerade richtig ist. Das ist nicht unbedingt das, was alle erwarten, und deshalb braucht es auch Mut, danach zu handeln. Ich kann aber sagen: Wer das macht, spürt, dass es funktioniert. Schade, dass wir Menschen oft eine Krise durchleben müssen, um diese innere Weisheit zu finden. Danach lebst du anders. Erfüllter, mutiger, unangepasster. Das ist richtig so.
Und die Wut? Ist gar nicht so selten. Ich habe interessanterweise in meiner Praxis erlebt, dass jüngere Menschen sich viel mehr vor dem Tod fürchten, als ältere. Vermutlich, weil sie noch nicht richtig gelebt haben und im Fall eines Todes mehr zu verlieren haben, als ältere Menschen. Die können friedlicher mit ihrem Leben abschließen, weil sie viele ihrer Träume gelebt haben. Die Jüngeren hingegen haben noch soviel vor sich. Und daran können wir uns ein Beispiel nehmen: Du hast nur ein einziges kostbares Leben und das ist zum Leben da. Nicht zum Verwalten. Deshalb schiebe deine Träume nicht auf, sondern lebe.
Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.