
Alles zu viel – Reizüberflutung
Mein Leben mit MS:
Hallo und herzlich willkommen bei MS-Voices! Ich bin Irene, und hier dreht sich alles um das Leben mit Multipler Sklerose (MS). Als ich vor einigen Jahren die Diagnose erhielt, hat sich mein Alltag auf den Kopf gestellt – und ich war plötzlich mit unzähligen Fragen, Ängsten und Herausforderungen konfrontiert. In diesem Blog möchte ich meine persönlichen Erfahrungen mit euch teilen und Menschen eine Stimme geben, die unter MS leiden. Wie ist das wirklich, mit MS zu leben? Wie verändert es den Alltag, die Beziehungen und die Zukunftsplanung? Hier gibt es ehrliche Einblicke, praktische Tipps und die ein oder andere Anekdote aus meinem Leben – direkt aus dem Herzen einer Betroffenen.
Manchmal frage ich mich, ob mein Nervensystem einfach nur müde ist – so müde, dass es nicht mehr unterscheiden kann zwischen wichtig und belanglos. Jeder Ton, jedes Licht, jede Bewegung trifft mich wie eine kleine Explosion im Kopf. Ich bin dann nicht einfach nur erschöpft – ich bin überflutet. Ausgeliefert. Überreizt.
Ich lebe mit Multipler Sklerose. Und mit ihr lebe ich auch mit einem Phänomen, das viele Betroffene gut kennen: Reizüberflutung. Und zwar nicht als Modewort oder Metapher, sondern als sehr reale Belastung, die sich wie ein zäher Nebel über meinen Alltag legt.
Von Bussen, Schülern und Wartezimmern
Ein Beispiel? Mein regelmäßiger Quartalsbesuch beim Neurologen. Das sind vier Busfahrten insgesamt. Vier. Klingt machbar? Für viele bestimmt. Für mich ist es jedes Mal ein Horrortrip. Morgens rein in den ersten Bus – meist voller Schüler, die laut Musik hören, sich quer durch den Bus unterhalten, lachen, schreien, rangeln. Ich höre jedes Wort, jedes Lachen wie durch ein Megafon in meinem Ohr. Es ist nicht böse gemeint von ihnen – sie leben einfach. Aber für mich fühlt es sich an, als würde mein Inneres in tausend Teile zerspringen.
Dann Umstieg. Warten. Neuer Bus. Neues Geräuschchaos. Und im Wartezimmer beim Arzt? Neonlicht, leise Musik, Schritte auf Linoleum, Türenklappern, Husten, Telefonklingeln – alles gleichzeitig, alles unkoordiniert. Mein System versucht alles gleichzeitig zu verarbeiten – und kollabiert innerlich daran.
Zwischen Menschen – und trotzdem allein
Ich liebe es, Konzerte zu besuchen. Musik hat mich mein Leben lang getragen. Die Energie, die Gemeinschaft, das gemeinsame Erleben – all das bedeutet mir viel. Und gleichzeitig: Die Menschenmassen, die stickige Luft, das Blitzlicht, das Gedränge – ich stehe mittendrin und fühle mich wie ein verlorener Punkt in einem Ozean aus Lärm und Licht. Mein Körper schaltet dann auf Notbetrieb, mein Geist zieht sich zurück. Ich bin da – aber auch nicht. Und wenn ich später nach Hause komme, ist alles leer in mir.
Selbst bei Familienfeiern, die ich früher so genossen habe, merke ich: Die Geräuschkulisse überfordert mich. Wenn mehrere Gespräche gleichzeitig stattfinden, wenn Geschirr klappert, Musik im Hintergrund läuft, Kinder lachen oder weinen – ich verliere die Orientierung. Ich kann mich nicht mehr auf das Gespräch vor mir konzentrieren, geschweige denn, es genießen. Und dann fühle ich mich schuldig. Weil ich das Leben liebe. Und weil ich es trotzdem manchmal nicht ertrage.
Kino? Nur mit Vorwarnung.
Ich habe früher gern Filme geschaut. Jetzt vermeide ich es oft. Schnelle Schnitte, grelle Bilder, hektische Szenen – mein Gehirn rebelliert. Meine Augen tun weh, ich verliere den Faden, kann der Handlung nicht mehr folgen. Ich spüre, wie mein Körper mir sagt: „Zu viel! Zu schnell! Zu laut!“ Und ich kapituliere.
Der Ort, an dem ich wieder atmen kann In all dem Lärm, all dem Zuviel, gibt es einen Ort, an dem ich zur Ruhe komme: Jens. Jens ist mein Mensch. Mein Ruhepol. Mein Fels. Seine Umarmung ist wie eine Schutzhülle gegen die Welt da draußen. Wenn ich völlig überdreht nach Hause komme, wenn mein Kopf rauscht und mein Herz rast – dann reicht oft ein Blick von ihm. Eine Hand auf meinem Rücken. Ein leises: „Ich bin da.“ Und ich kann wieder atmen.
In seiner Nähe beruhigt sich mein Nervensystem. Ich glaube, mein Körper hat gelernt, dass es in seiner Gegenwart sicher ist. Und das ist mehr wert als alle Therapien der Welt. Wir reden viel. Oder sitzen auch mal einfach nur zusammen. Keine Erwartungen, kein Druck, keine Reizflut. Nur Stille. Und Liebe.
Was ich gelernt habe
Ich kann nicht alles kontrollieren. Die Busfahrten bleiben anstrengend, das Leben draußen bleibt laut. Aber ich kann kleine Inseln schaffen. Ich plane Pufferzeiten ein, nehme Ohropax mit, oder sitze im Bus und höre Musik. ANC (Active Npose Cancelling) ist eine tolle Erfindung. Anstrengend bleibt es trotzdem. Ich bin rund dreieihalb Stunden unterwegs für den Quartalstermin von rund 20 Minuten. Ich sage bei Feiern auch mal „nein“, oder ziehe mich zurück, wenn es zu viel wird.
Ich habe aufgehört, mich dafür zu schämen. Das bin ich. Das ist mein Leben mit MS. Ich muss mich nicht rechtfertigen. Wer mich liebt, versteht das. Und wer mich wirklich sieht, erkennt: Ich kämpfe jeden Tag. Und manchmal gewinne ich diesen Kampf.
Reizüberflutung ist kein Luxusproblem. Es ist real. Und es betrifft viele von uns mit MS.
Aber wir sind nicht allein. Und wir dürfen lernen, auf uns aufzupassen. Unsere Grenzen zu respektieren. Und unsere Inseln zu finden. Für mich ist das – Jens. Und meine eigene, innere Stimme, die mir leise sagt: Du darfst leiser treten. Du darfst dich schützen. Und du darfst trotzdem das Leben lieben.
Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, diesen Beitrag zu lesen! Ich hoffe, dass meine Erfahrungen dir ein Stück Klarheit oder Ermutigung schenken konnten. Als ich die Diagnose MS bekam, fühlte ich mich oft allein und überfordert. Genau deshalb habe ich ein Buch geschrieben, das ich selbst damals so dringend gebraucht hätte. „Spring, damit du fliegen kannst.: Ein Selbsthilfe-Ratgeber für MS-Erkrankte und ihre Angehörigen.“ Es ist bei Minerva-Vision erschienen. Wenn du Interesse hast, schau es dir gerne an – vielleicht ist es genau das, was auch dir weiterhelfen kann. Oder hör dir meinen Podcast „MS-Voices“ an. Bis zum nächsten Mal!
Du hast auch MS und möchtest mit mir in meinem Podcast darüber sprechen? Dann schreib mir eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.