
„Ich muss mich immer entschuldigen, auch wenn ich nichts falsch gemacht habe“
Erzähl mir dein Leben:
„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.
Minerva VISION: Anna, magst du uns erzählen, was bei euch zu Hause passiert?
Anna: Meine Mutter lügt ständig meinen Vater an. Sie denkt sich Gründe aus, warum sie angeblich sauer auf mich ist: Dass ich respektlos bin, dass ich sie beleidigt hätte, dass ich nicht dankbar genug sei. Aber das stimmt alles nicht. Sie erfindet diese Geschichten einfach, und ich kann nichts dagegen tun.
Minerva VISION: Wie reagiert dein Vater darauf?
Anna: Er glaubt ihr jedes Mal. Ohne mit mir zu reden, stellt er sich sofort auf ihre Seite. Dann kommt er zu mir und sagt, ich müsse mich sofort bei ihr entschuldigen, „damit wieder Ruhe ist“. Ich habe keine Chance, meine Sicht zu erklären. Ich muss einfach gehorchen.
Minerva VISION: Wie fühlst du dich dabei?
Anna: Total hilflos. Ich weiß ja, dass ich nichts falsch gemacht habe. Aber wenn ich mich weigere, mich zu entschuldigen, wird es noch schlimmer. Dann wird mein Vater richtig wütend, schreit mich an. Ich habe Angst, dass er komplett ausrastet.
Minerva VISION: Und wie verhält sich deine Mutter nach der Entschuldigung?
Anna: Sie ist dann so… selbstzufrieden. Sie sitzt da mit diesem grinsenden Blick, fast gehässig. So, als hätte sie gewonnen. Manchmal streichelt sie mir dann über den Kopf oder sagt: „Na, siehst du, so schwer war das doch nicht.“ Das fühlt sich so falsch an. Ich merke, dass sie ihre Macht über mich auskostet.
Minerva VISION: Und was passiert danach?
Anna: Ein paar Tage ist es dann halbwegs ruhig. Aber spätestens nach einer Woche geht es wieder los. Sie stichelt, provoziert mich, verdreht meine Worte. Ich habe immer das Gefühl, ich muss auf Zehenspitzen durchs Haus laufen. Jede Kleinigkeit kann einen neuen Streit auslösen — den ich am Ende wieder „lösen“ muss, indem ich mich entschuldige.
Minerva VISION: Hast du mit jemandem darüber gesprochen?
Anna: Ich habe es einmal einer Freundin erzählt. Die war total geschockt und meinte: „Das ist emotionaler Missbrauch.“ Ich wusste gar nicht, dass das so heißt. Ich dachte immer, es liegt an mir, dass ich „schwieriger“ bin als andere Kinder.
Minerva VISION: Was wünschst du dir gerade am meisten?
Anna: Ich wünsche mir, dass mein Vater mir einmal zuhört, ohne direkt Partei für sie zu ergreifen. Und ich will einfach mal sagen dürfen: „Es reicht! Ich bin nicht schuld!“
Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:„Warum Kinder nicht die Blitzableiter für elterliche Konflikte sein dürfen“
Annas Geschichte ist traurig und leider kein Einzelfall. Viele Kinder und Jugendliche erleben, wie ihre Eltern sie unbewusst (oder manchmal sogar bewusst) in emotionale Machtspiele hineinziehen.
In Annas Fall erleben wir eine Mutter, die ihre Tochter als Blitzableiter benutzt, um eigene Unzufriedenheit, innere Leere oder ungelöste Konflikte abzureagieren. Der Vater spielt mit, indem er Annas Sichtweise ignoriert und sie zur Entschuldigung zwingt. Was dabei entsteht, ist ein toxisches Familienklima, das die Seele des Kindes vergiftet.
Kinder wie Anna lernen sehr früh: „Ich bin schuld.“ Auch wenn sie rational wissen, dass sie nichts falsch gemacht haben, entsteht ein tiefes Gefühl von Scham und Selbstzweifel. Genau hier entsteht die gefährliche Überzeugung: „Ich bin nicht okay, so wie ich bin.“ Diese Dynamik führt oft dazu, dass betroffene Kinder später im Leben Schwierigkeiten haben, für ihre Bedürfnisse einzustehen. Sie entwickeln übertriebene Anpassungsstrategien, wollen es allen recht machen oder wählen immer wieder Partner, die sie abwerten, weil ihr Selbstwert schon früh untergraben wurde.
Der Kern dieser Problematik liegt in der elterlichen Unreife. Eltern, die ihre Kinder für ihre eigenen emotionalen Baustellen verantwortlich machen, handeln nicht aus Stärke, sondern aus Unfähigkeit, ihre eigenen Themen selbst zu lösen.
Was können Kinder wie Anna tun?
- Die Schuld zurückgeben: Innerlich immer wieder sagen: „Das ist nicht meine Verantwortung.“
- Sich Verbündete suchen: Eine Tante, eine Lehrerin, eine Freundin, Menschen, die den eigenen Wert bestätigen.
- Den Selbstwert stärken: Lernen, sich selbst wichtig zu nehmen, statt immer nur die Erwartungen anderer zu erfüllen.
Und an die Eltern gerichtet: Es ist eure Aufgabe, euch um eure eigenen Emotionen zu kümmern. Ein Kind ist kein Blitzableiter, kein Therapeut und kein Ventil. Kinder brauchen Schutz, Verständnis und das Gefühl, so geliebt zu werden, wie sie sind, ohne Bedingungen.
Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.