Auf einmal ging ich wie durch Sand
Die ersten Symptome und der Behandlungsablauf. Warum ein merkwürdiges Laufverhalten, plötzlich auftretende Schwindelanfälle, unerklärliche Stürze oder auch das Unvermögen kleine Dinge festzuhalten die Warnzeichen deines Körpers sein können. Irene Sybertz erzählt in ihrem Buch “Spring, damit du fliegen kannst” ihre persönliche Geschichte mit Multiple Sklerose.
Donnerstag, 12. November 2009
Auf dem Weg vom Parkplatz in die Firma. Mein rechtes Bein fühlte sich an, als ob ich mit ihm im Sand laufen würde. Eigentlich eine nette Vorstellung, wenn es nicht der Gang auf hartem Asphalt gewesen wäre und das linke Bein sich völlig normal angefühlt hätte. Ich fragte mich noch, ob das vielleicht eine Nebenwirkung der Grippe-Impfung aus der Vorwoche war.
Freitag, 13. November 2009
Es lag wohl am Datum, dass meine Unterschrift auf der Auftragsbestätigung an den Kunden nicht lesbar war. Merkwürdigerweise fühlte ich den Stift nicht richtig. Ich konnte ihn kaum festhalten. Ich erinnere mich noch daran, dass ich meinem Azubi gesagt habe: „Mensch, Nico, sieh dir das mal an, das kann ja kein Mensch lesen! Sei so gut, unterschreibe es im Auftrag für mich und sende das Fax dann an den Kunden.“
Samstag, 14. November 2009
Mit dem vollen Wäschekorb die Treppe runtergesegelt. Himmel, tat das weh! Aber was bin ich auch so blöd, nicht hinzusehen, wo ich hinlaufe? Selbst schuld. Ein paar Stunden später das Gleiche nochmal. Nur ohne Wäschekorb. Auf einmal war mein rechtes Bein weg. War ich über etwas gestolpert, was ich nicht gesehen hatte? Oder war die letzte Erkältung doch heftiger als gedacht und ich hatte sie mal wieder nicht ordentlich auskuriert?
Nacht von Samstag, 14. auf Sonntag, 15. November 2009
Alle 15 bis 20 Minuten aufgestanden, um zur Toilette zu gehen. Ich hatte das Gefühl, dass meine Blase nie richtig leer wurde. Aber ich hatte doch nicht mehr Wasser oder Kaffee über den Tag verteilt zu mir genommen als sonst auch? Bei jedem Weg zur Toilette war mir so schwindelig, dass ich beinahe umgefallen wäre. Ich musste mich mit beiden Händen an der Wand des Flures vom Schlafzimmer ins Bad festhalten. Das war komisch. Das war nicht normal.
Sonntag, 15. November 2009
Kaffeekränzchen mit meinem damaligen Mann am Nachmittag. Da es Richtung Advent zuging, standen auch Spekulatius auf dem Tisch. Die leckeren Butter-Spekulatius. Aber immer, wenn ich einen in die rechte Hand nehmen wollte, konnte ich ihn kaum greifen, und wenn ich ihn dann hatte, fiel er mir aus der Hand. Ich versuchte das dann spaßeshalber mit der linken Hand und alles war ganz normal. Plötzlich hatte ich Schwierigkeiten, im Gespräch die richtigen Worte zu finden. Ich wusste doch genau, was ich sagen wollte, musste aber dann fünf oder sechs ähnliche Worte wählen, die mir einfielen, bevor ich auf das kam, was ich eigentlich sagen wollte. Und du weißt ja: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Mein damaliger Mann fand das witzig. Ich nicht. Bis heute, und wir schreiben das Jahr 2023, habe ich nicht einen einzigen Spekulatius mehr gegessen. So weit so gut. Am nächsten Morgen würde ich gleich einen Termin beim Hausarzt vereinbaren. Für den späten Nachmittag; nach der Arbeit. Da legte aber mein Mann ein Veto ein.
Montag, 16. November 2009
Horst telefonierte am Morgen des 16. November mit unserem Hausarzt und der hatte einen freien Termin, sodass wir direkt zu seiner Praxis fahren konnten. Ich stolperte meinem Hausarzt dann regel-recht in die Arme und als ich erzählte, wie es mir die letzten Tage ergangen war, wurde seine Mine immer ernster. Dann kam der erste Schock-Satz für mich: “Sofort ins Krankenhaus! Ausschluss Multiple Sklerose. Ich mache Ihnen die Papiere fertig.“
Ich saß da wie gelähmt. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn meine rechte Körperhälfte war gelähmt. In Teilen. Nur war mir das zu dem Zeitpunkt noch nicht klar. Horst fuhr dann mit mir nach Hause. Ich war nicht ansprechbar, wie in einem Tunnel. Worte prallten an mir ab. Vor meinen Augen, in meinem Gehirn liefen die Worte wie auf einem Laufband: Multiple Sklerose Multiple Sklerose Multiple Sklerose. Das Einzige, was ich bis zu diesem Zeitpunkt über die Krankheit wusste, war, dass man nicht mehr unweigerlich im Rollstuhl landet und dass sie unheilbar, aber nicht unbedingt tödlich ist.
Horst hatte in der Zwischenzeit Kontakt zur neurologischen Klinik aufgenommen, die mich aber erst drei Tage später aufnehmen konnte. Ich bin ein Mensch, der schwierige Situationen lieber gestern als heute angeht. Und so waren die rund 72 Stunden mehr als schwer zu ertragen. Ich fing an, im Internet zu recherchieren, und hatte dann doch wieder ein bisschen Hoffnung, da die Symptome der Multiplen Sklerose ähnlich sind wie bei einigen anderen neurologischen Erkrankungen. Borreliose zum Beispiel, oder auch ein Schlaganfall. Ich weiß nicht warum, aber einen Schlaganfall schloss ich für mich aus. Blieb noch die Borreliose, was für mich einen Sinn ergab, da Horst und ich zu diesem Zeitpunkt drei Hunde hatten. Meine Polly, eine Deutsche Langhaar-Schäferhündin, spürte offenbar, dass es mir nicht gut ging. Ohne dass ich etwas gesagt hätte, wich sie mir nicht mehr von der Seite. Das hat mir gutgetan. Meine treue Freundin Polly, die nicht fragte, sondern nur bedingungslos zu mir hielt. Horst konnte zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr mithalten. Das wurde mir allerdings erst viel später bewusst.
In der verbleibenden Zeit, bis zur Aufnahme in die Klinik, meldete ich mich in der Firma krank und organisierte den Haushalt noch so gut ich konnte. Ich gab Horst Instruktionen, was die Versorgung unserer Tiere anging, und erklärte ihm die Waschmaschine. Ich schrieb ihm noch einen Zettel, für welche Wäsche er welches Programm wählen sollte.
Ich gebe dir mal einen kleinen Eindruck, was in Sachen Schrift und Schreiben nur noch für mich möglich war. Schreibschrift ging gar nicht mehr; ebenso die Unterscheidung von Groß- und Kleinbuchstaben. Mein Gehirn schien alles vergessen zu haben. Es fällt mir heute noch schwer, einen Stift über längere Zeit zu halten oder etwas längere Texte mit der Hand zu schreiben. Für die kategorischen Weihnachtskarten jedes Jahr, muss ich zum Beispiel mehrere Tage für rund 20 Karten einplanen. Mehr als fünf bis sechs pro Tag sind bis heute nicht möglich.

Ein Ratgeber für alle an MS Erkrankten, deren Angehörigen und Freunde, die auf der Suche nach Antworten sind.
Spring, damit du fliegen kannst
Irene Sybertz
180 Seiten
ISBN: 978-3-910503-15-1
Erhältlich unter www.minervastore.de