Klein und wild: der Chihuahua
Es ist das 7. Jhd. vor Christus und wir stehen hoch oben, auf der 65 Meter hohen Sonnenpyramide, mitten in der aztekischen Stadt Teotihuacán. Übersetzt: der Ort, an dem der Mensch zu Gott wird.
Die Heimat von 200.000 Menschen erhebt sich auf der wüstenähnlichen zentralen Hochebene Mexikos. Unser Auge gleitet über die von Menschenmassen überbordende Straße der Toten, die ihren Namen den prachtvollen Königsgräbern verdankt, die an ihrem Rand zu finden sind. Heute ist wieder eine Bestattung. Die Sonne glüht rot dem Ende des Tages entgegen und die Priester beginnen mit den Opfergaben. Dort kommt der Erste. Er trägt ein winzig kleines Bündel mit sich, reich geschmückt. Es beinhaltet das Wichtigste, was der Verstorbene braucht, um ins Paradies zu gelangen: der Leichnam eines winzigen Hundes. Er wird als Erstes bestattet werden.
Nichts weniger als das Heil der unsterblichen Seele seines Herrchens wird von ihm abhängen. Von seinem Instinkt, seiner Klugheit und seinem Mut. Genau deshalb wurde er zu seinen Lebzeiten verhätschelt und verwöhnt, aber auch gefordert. Hier finden wir den Urvater des Chihuahuas.
2006 begannen auf dem berühmten Zócalo-Platz in Mexikostadt Ausschachtungsarbeiten für einen Neubau.
Die Aufregung war unglaublich, als die Arbeiter auf eine wahre Sensation stießen: eine zwölf Tonnen schwere Steinplatte aus rosa Andesit. Sie zeigt ein grauenvolles Abbild der aztekischen Erdgöttin Tlaltecuhtli, Gebieterin über Leben und Tod. Dargestellt ist die Göttin hockend, während der Geburt eines Kindes, gleichzeitig trinkt sie das Blut ihrer Nachgeburt. Der Archäologe Leonardo López Luján leitete die Ausgrabungen und fand eine wahre Schatzgrube an symbolischen Opfergaben, die alle mit Bedacht dort platziert wurden und das gesamte Weltbild der Azteken symbolisierten. Ganz unten, am Grund fand sich ein reich geschmücktes Tier. Ein kleiner Hund. Geschmückt mit Meerestieren, wie Muscheln, Krebsen und mit Schnecken. Denn die Aufgabe dieses Hundes bestand darin, die Seele seines verstorbenen Herrn sicher über die neun Todesflüsse der Unterwelt hin ins Paradies zu geleiten.
Er ist eine Legende
Finden wir ihn hier, den Stammvater der Chihuahuas? Die kleinste Hunderasse der Welt hüllt sich in wahre Mysterien, was ihre Herkunft anbelangt. Zweifellos gilt der Chihuahua als eine der ältesten Hunderassen der Welt. Und genau das macht die Sicherung von Entstehungsfakten so schwer. Also haben sich eine ganze Reihe von Legenden gebildet. Am meisten verbreitet ist die Annahme, dass der zarte kleine Chihuahua seine Wurzeln in Mexiko findet. Und zwar bei dem kriegerischen Stamm der Azteken.
Es ist nachgewiesen, dass die Azteken kleine Hunde hielten, mit sehr großen Augen.
Nach dem Tod wurde der Hund mit seinem Besitzer zusammen begraben, denn er sollte seinem Herrn den Weg ins Paradies weisen. Damit dieser kleine Hund das auch tat, war jeder Azteke ängstlich darauf bedacht, dass es seinem Hund an nichts fehlen möge. Es gibt weitere Theorien, die den Ursprung des Hundes in Ägypten sehen, von wo aus ihn Seefahrer mit nach Malta genommen haben. Von dort gelangte die Rasse nach England.
In einer Chronik aus dem Jahr 1570 kann man über die Chihuahuas lesen: “Je kleiner sie sind, desto wertvoller sind sie, umso mehr, wenn sie ein kleines Loch in der Schädeldecke aufweisen”. Bis zur Gründung des Britischen Chihuahua-Clubs dauerte es bis 1952 und er verzeichnete acht Hunde. Die Beliebtheit des Hundes stieg rasant und nur einige Jahre später, 1969, gab es bereits 4149 Chihuahuas. 1965 trennte man die Varietäten in Kurzhaar- und Langhaar auf, dies ist bis zum heutigen Tage so geblieben.
Nach Deutschland gelangten die ersten Chihuahuas erst nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1956 und der kleinste Hund der Welt erfreute sich einer stetig wachsenden Fangemeinde. Die offizielle Welpenstatistik des Verbands deutscher Kleinhundezüchter weist in den letzten zehn Jahren stabil zwischen 800 und 900 Welpen im Jahr auf. Und dort sollte man seinen Chihuahua auch kaufen: bei Menschen, die den Hund nicht nur mit Liebe, sondern auch mit Sachverstand züchten. Dieser ist bei dem kleinsten Hund der Welt gefragt. Die offene Fontanelle, über die der Chihuahua verfügt, kann zu vorgeburtlichen Verletzungen der Welpen führen. Er soll klein sein, darf aber auch nicht zu klein werden. Hier ist in der Tat züchterische Genauigkeit gefragt. Die Pflege ist bei dem Chihuahua etwas Besonderes: So ist es notwendig, ihm die Zehennägel zu kürzen. Normalerweise laufen Hunde sich die Nägel von selbst ab, ein Zwerghund kann dies in der Regel nicht leisten. Auch der Gebisswechsel bedarf einer erhöhten Achtsamkeit, denn der Chihuahua hält oft seine Milchzähne fest. Um ein doppeltes Gebiss zu vermeiden, kann es sein, dass diese gezogen werden müssen.
Ansonsten überzeugt der kleine Kerl mit einer robusten Gesundheit, die sich in seiner Langlebigkeit zeigt.
Mit einer durchschnittlichen Lebensdauer von 14 bis 18 Jahren gehört der Chihuahua zu den Hunderassen mit der längsten Lebenserwartung. Megabyte heißt der älteste Chihuahua, er erreichte stolze 20 Lebensjahre.
Was nun aber die Geschichte des Chihuahuas angeht, so steht nur eines mit historischer Sicherheit fest: Sie liegt im Ungewissen. Betrachtet man sich das majestätische Wesen des Hundes, so bietet die Legende des Aztekenhundes eine wunderbare Darstellung seines Wesens. Ein Chihuahua ist von Natur aus majestätisch und er wünscht sich Respekt.
Ein Chihuahua ist ein ganzer Kerl
Er kann niedlich – und das kann er unglaublich gut. Aber er ist weitaus mehr, als ein süßer kleiner Spielgefährte. Ein waschechter Chihuahua ist ein ganzer Kerl. Ein Begleiter in jeder Lebenslage. Mit mehr Mut ausgestattet, als manch Großer. Unerschrocken und furchtlos, eigensinnig und majestätisch – dies alles sind Eigenschaften, die dem niedlichen Hund in die Wiege gelegt wurden. Was kann er dafür, dass seine Muskelkraft mit seinem stählernen Willen nicht mithalten kann? Professor James A. Serpell von der School of Veterinary Medicine führte eine Studie in den USA über die Gefährlichkeit von Hunderassen durch. 1500 Mitglieder von Hundezuchtvereinen haben sich daran beteiligt, dazu kamen mehr als 8000 Hundebesitzer, die den Fragebogen online ausfüllten. Die Forscher fragten unter anderem nach Angriffen auf Fremde oder auf andere Hunde. Die Ergebnisse überraschten.
“Die höchste Rate von Aggressionen, die sich gegen Menschen richten, besteht bei kleineren Rassen”, schreiben die Forscher im Fachblatt “Applied Animal Behaviour Science”. Der Chihuahua landete hinter dem Dackel auf Platz 2. Aber nur, wenn es um Angriffe auf fremde Personen ging und verwies damit den gefürchteten Pitbull auf Rang 7. Denn wenn es um die Sicherheit seines Menschen geht, versteht der Chihuahua keinen Spaß. Wird er nicht frühzeitig genug erzogen, so kann er eine gewisse Eigendynamik entwickeln, dann übernimmt er die Leitungsfunktion im Familienrudel und gibt die Regeln vor.
Kulleraugen und Stupsnase
Dieses süße kleine Wesen mit den Kulleraugen und der knautschigen Stupsnase ist einfach zu süß. Und wenn dieser kleine Kobold wild grinsend auf einen zugetrippelt kommt, dann müssen Herzen einfach dahinschmelzen. Und da ist sie – die größte Gefahr, in die ein Chihuahua-Halter tappen kann: die Verwöhnfalle! Eh man sich versieht, gehört man ihm mit Haut und Haar. Sein Wohlbefinden kann zum 24-Stunden-Job werden. Denn er ist zwar klein, aber nicht zu unterschätzen. Das, was andere Hunde mit einer Vielfalt an Mimik darstellen, verpackt ein Chihuahua im vielsagenden Heben einer Augenbraue. In ihm steckt der Wille eines Titans und klug ist er. Er weiß, dass er klein ist – er ist ja nicht blöd. Und so spielt er seinen Machtwillen auf anderer Ebene aus. Er ist ein Meister der Strategie und weiß seine Waffen einzusetzen. So mancher Chihuahua hat sich schon zum Hausherren erhoben. Er strickt ein zartes, spinnenwebenfeines Netz, in dem sich so mancher Mensch unbemerkt gefangen hat. Seine Waffe: Seine unglaubliche Niedlichkeit und ja – wie viele hochintelligente Wesen hat er eine winzig kleine Tendenz zur Allmacht. Gottgleich sieht er sich am liebsten und wird er nicht gestoppt, sorgt er dafür, dass seine Umgebung ihn genauso sieht.
Für wen ist der Chihuahua geeignet?
Für Menschen, die ihn nicht unterschätzen. Denn das ist leider sein Schicksal – aus dem Grund landeten viele Chihuahuas in den US-Tierheimen. Ein Chihuahua ist kein Baby-Ersatz. Wer ihn nur verwöhnt, zieht einen Tyrannen groß, der aus lauter Allmachtsfantasien nicht davor zurückschreckt, die Wohnungseinrichtung zu demolieren, ins Auto zu pinkeln, ständig zu Kläffen oder die teure Kaschmir-Strickjacke zu zerfetzen. Und dabei im Grunde seines Herzens unglücklich ist. Wie jeder echte Hund fühlt ein Chihuahua sich nur dann sicher und geborgen, wenn er Führung erfährt.
Die muss bei ihm aber mit Augenmaß erfolgen.
Menschen, die zu streng sind, nimmt er nicht ernst. Und Menschen, die ihn verhätscheln, gehen ihm auf die Nerven. Weil er so klug ist, ist er recht schnell und leicht in Eigenregie zu erziehen. Konsequenz ist das Zauberwort. Wenn ein Chihuahua etwas macht, was er nicht machen soll, schickt man ihn konsequent weg. Das ist die größte Strafe für ihn, denn er klebt ja förmlich an seinem Lieblingsmenschen. Ein Fehler wäre es, den kleinen Hund einfach in die Tasche zu packen, wenn er etwas Unerwünschtes macht. Er versteht es nicht, und es macht ihn erst ratlos, dann unglücklich – und dann macht es ihn hilflos und wütend. Und ja, auch kleine Zähne können kraftvoll zubeißen.
Fakten-Check: Was wir über den Chihuahua gelernt haben
1. Körperlich zart – innerlich smart. Ein Chihuahua sollte nie unterschätzt werden.
2. Er hat ein ausgesprochen starkes Ego. Das drängt ihn dazu, eine Wach- und Beschützerrolle einzunehmen.
3. Er braucht Grenzen, ansonsten kann er aggressiv werden. Und kleine Zähnchen können ebenfalls hart zubeißen.
4. Ganz besonders achtet man aufs Bellen. Niemals lachen oder verstärken, sondern von klein auf in ruhige Bahnen liegen.
5. Ein Chihuahua sucht sich einen Lieblingsmenschen aus und ist diesem fortan bedingungslos treu ergeben.
Mehr über den Chihuahua findet ihr hier:
Chihuahuas verstehen | erziehen | ausbilden
Minerva Verlag, Mönchengladbach
Softcover, 116 Seiten. Farbig mit Bildern.
ISBN 978-3-910503-09-0
Hier schreibt:
Claudia de la Motte ist seit mehr als 25 Jahren die Chefredakteurin der „Hundewelt“. Sie ist dafür bekannt, Dinge klar auf den Punkt zu bringen und ist stets bestrebt, die Verbindung zwischen Menschen und ihren Hunden zu stärken.