
„Jedes Kind kann schlafen lernen“: Was macht Schlaftraining mit der Kinderseele?
„Jedes Kind kann schlafen lernen“ ist ein Bestseller. Kaum ein Erziehungsratgeber hat in den vergangenen Jahrzehnten so viele Debatten ausgelöst wie dieses Buch. Eltern, die am Rande ihrer Kräfte stehen, sehen darin oft die rettende Lösung: Endlich wieder durchschlafen! Doch hinter der scheinbar einfachen Formel verbirgt sich ein Ansatz, der tief in die Psyche des Kindes eingreift. Denn das Konzept basiert auf sogenanntem Schlaftraining: Kinder sollen lernen, alleine einzuschlafen, indem sie nach einem festen Plan schreien gelassen werden. Kontrolliert, in festgelegten Intervallen und ohne sofortige elterliche Reaktion. Was tun wir unseren Kindern damit an?
Bindung statt „Dressur“: Was die Seele wirklich braucht
In der frühen Kindheit ist Nähe keine „schlechte Gewohnheit“, sondern ein existenzielles Bedürfnis. Neugeborene und Babys kommen mit einem biologischen Programm auf die Welt: Sie brauchen körperliche und emotionale Zuwendung, um sich sicher zu fühlen. Wenn ein Baby weint, ist das kein Manipulationsversuch, sondern Ausdruck von Not. Die elterliche Reaktion, ob Wiegen, Streicheln oder sanftes Reden, vermittelt: Du bist nicht allein. Deine Gefühle sind wichtig. Die Welt ist ein sicherer Ort.
Lässt man ein Kind wiederholt alleine schreien, kann es zwar äußerlich „lernen“, sich selbst zu beruhigen. Doch was wirklich passiert, ist oft ein Abbruch des Kommunikationsversuchs: Das Kind gibt auf. Psychologen sprechen hier von erlernter Hilflosigkeit, einem Zustand, in dem das Kind die Erfahrung macht, dass es keinen Einfluss auf seine Umwelt hat. Schläft das Kind also wirklich glücklich alleine ein? Oder verstummt es resigniert und zieht sich in sich selbst zurück? Kümmert es seelisch, während wir seelig schlafen?
Stresshormone bereits im Babyalter
Neurowissenschaftliche Untersuchungen zeigen: Babys, die schreien gelassen werden, weisen erhöhte Cortisolspiegel auf. Dieser Stress kann sich nicht nur auf die Gehirnentwicklung auswirken, sondern auch auf die spätere Fähigkeit, mit Emotionen umzugehen. Wird in den ersten Lebensjahren immer wieder vermittelt, dass Kummer und Angst alleine bewältigt werden müssen, kann das langfristig zu einem unsicheren Bindungsmuster führen. Kinder mit unsicherer Bindung zeigen häufiger Ängste, Schwierigkeiten in Beziehungen und ein vermindertes Selbstwertgefühl.
Verletztes Urvertrauen zieht sich durchs Leben
Das erste Lebensjahr gilt als die Zeit des sogenannten Urvertrauens. In dieser Phase lernen Kinder, ob sie sich auf ihre Bezugspersonen verlassen können. Ein Kind, das erlebt, dass seine Signale zuverlässig beantwortet werden, entwickelt die Grundlage für ein stabiles Selbstbild: Ich bin wichtig. Ich werde gesehen. Wird dieses Vertrauen jedoch immer wieder enttäuscht, entsteht ein tiefer, oft unbewusster Zweifel an der Verlässlichkeit anderer Menschen, eine Wunde, die sich bis ins Erwachsenenleben ziehen kann.
In vielen indigenen Gemeinschaften, zum Beispiel bei den Efe in Zentralafrika oder den indigenen Völkern Amazoniens, gilt das Baby nicht als „Störfaktor“, der schnell unabhängig werden soll, sondern als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft. Das Kind wird als jemand verstanden, der von Natur aus auf Bindung und Nähe angewiesen ist. Weinen ist in diesen Kulturen kein „unerwünschtes Verhalten“, sondern ein wichtiges Signal, auf das prompt und selbstverständlich reagiert wird. Ein zentrales Element: Kontinuierlicher Körperkontakt. Babys werden nahezu den ganzen Tag getragen (sogenanntes „Körpertragen“), oft in Tüchern oder Schlingen. Körperwärme, Geruch, Atemrhythmus der Mutter oder anderer Bezugspersonen wirken beruhigend und das ständige Getragenwerden reduziert die Notwendigkeit, überhaupt zu weinen. Die Mutter stillt sehr häufig (sogenanntes on-demand feeding, also nach Bedarf), oft auch nur zur Beruhigung. Wenn ein Baby weint, wird es in diesen Kulturen in der Regel sofort beruhigt. Dieses Verhalten ist intuitiv: Kein Zögern oder Abwägen („Verwöhne ich das Kind jetzt?“), kein Festhalten an festen Schlaf- oder Fütterungsplänen, kein Training, damit es „lernt, alleine zu schlafen“.
Das sogenannte Kontinuum-Konzept beschreibt, dass menschliche Babys evolutionär darauf ausgerichtet sind, in ständiger Nähe zu Bezugspersonen aufzuwachsen. Diese Praxis führt langfristig zu einer besseren emotionalen Selbstregulation.
Was bedeutet das für uns?
In westlichen Gesellschaften herrscht oft die Vorstellung, dass Babys früh „selbstständig“ werden müssten, auch in Bezug auf das Schlafen. Indigene Kulturen zeigen hingegen, dass Bindung und Nähe die eigentliche Grundlage für ein gesundes, unabhängiges Erwachsenenleben sind. Statt Weinen als „unerwünschtes Verhalten“ zu sehen, könnte es helfen, es als wichtigen Kommunikationsweg zu verstehen. Indigene Völker erinnern uns daran, dass Schreien evolutionär nicht dafür gedacht ist, ignoriert oder „wegtrainiert“ zu werden, sondern dass es eine lebenswichtige Brücke zwischen dem hilflosen Kind und der Umwelt darstellt. Ihr Beispiel kann für Eltern in modernen Gesellschaften eine Einladung sein, wieder mehr auf Instinkt, Nähe und feinfühliges Reagieren zu vertrauen — und weniger auf starre Konzepte und Zeitpläne.
Es ist ein Grat zwischen Erschöpfung und Verantwortung
Natürlich dürfen Eltern ihre eigene Belastung nicht ausblenden. Schlafmangel kann Familien an ihre Grenzen bringen und das Risiko für Depressionen oder Beziehungsprobleme erhöhen. Viele Eltern greifen aus purer Verzweiflung zu solchen Dressur-Methoden, um wieder schlafen zu können. Doch es gibt sanftere Wege, Kindern beim Ein- und Durchschlafen zu helfen, ohne ihre psychische Entwicklung zu gefährden. Diese beinhalten unter anderem:
- Ruhige, wiederkehrende Abendrituale.
- Körperliche Nähe (z. B. eine Hand auf dem Rücken).
- Allmähliches Verlängern der Einschlafphasen, ohne das Kind alleine weinen zu lassen.
- Flexibles Reagieren auf die Signale des Kindes, statt starrer Zeitpläne.
Was bleibt?
Die entscheidende Frage lautet nicht: Wie bringen wir ein Kind dazu, schnell durchzuschlafen? Sondern: Wie begleiten wir es, sodass es Vertrauen in sich selbst und in die Welt entwickeln kann? Schlaftraining nach starren Regeln kann kurzfristig Erleichterung bringen, aber zu welchem Preis? Die kindliche Psyche ist empfindlich und formbar. Der Umgang mit Nähe und Trost in den ersten Jahren prägt uns mehr, als viele ahnen. Letztlich braucht es einen Perspektivwechsel: Nicht das „Dressieren“ von Verhalten, sondern das Verstehen von Bedürfnissen sollte im Mittelpunkt stehen. Nur so kann ein Kind lernen, dass es sicher ist, nicht nur in der Nacht, sondern im Leben.
Der Kommentar von Nina, unserem Mental-Health-Coach: Nähe ist keine Schwäche
Ich höre immer wieder von Eltern, die mir sagen: „Ich weiß nicht mehr weiter. Mein Kind schreit abends, und alle Bücher raten mir, es allein zu lassen, damit es endlich lernt zu schlafen.“ Wenn ich dann frage: „Was sagt denn euer Gefühl?“, antworten fast alle: „Es fühlt sich falsch an. Ich möchte es in den Arm nehmen. Ich möchte da sein.“
Und genau das ist der entscheidende Punkt. Wir haben in unserer Kultur verlernt, auf unsere Intuition zu hören. Stattdessen vertrauen wir Konzepten, die Kindern das „richtige“ Verhalten antrainieren sollen, oft mit dem Ziel, sie möglichst früh unabhängig zu machen. Aber Unabhängigkeit wächst nicht durch erzwungene Distanz, sondern durch liebevolle Nähe.
Ein Baby, das schreit, ist kein Tyrann. Es ist auch nicht manipulativ oder „verwöhnt“. Es ist einfach ein kleiner Mensch mit einem legitimen Bedürfnis nach Kontakt und Sicherheit. In indigenen Kulturen gilt das als selbstverständlich. Niemand würde dort auf die Idee kommen, einem Baby zu vermitteln, dass es mit seinem Weinen alleine bleiben muss.
Eltern, die ihre Kinder trösten, geben ihnen kein „falsches Signal“. Im Gegenteil: Sie vermitteln, dass Gefühle wichtig sind, dass sie gehört werden und dass sie sicher sind. Diese Erfahrungen sind die Grundlage für ein starkes Selbstwertgefühl.
Wenn wir Kinder allein schreien lassen, lehren wir sie nicht, zu schlafen. Wir lehren sie, dass niemand kommt. Das nennen wir dann „Selbstberuhigung“. Aber in Wahrheit ist es Resignation.
Ich möchte Eltern ermutigen, wieder auf ihre eigenen Werte und ihre innere Stimme zu hören. Liebevolle Nähe ist kein Zeichen von Schwäche, es ist ein Ausdruck von Stärke und Verantwortung.
Wir brauchen keine Programme, die Kinder „dressieren“. Wir brauchen Beziehungen, in denen sich Kinder gesehen, gehört und gehalten fühlen.