„Ich wäre bei der Geburt beinahe gestorben.“
Erzähl mir dein Leben:
„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.
„Ich dachte, ich würde es nicht schaffen“
Sarah (32) erzählt, wie eine dramatische Geburt ihr Leben veränderte.
Als Sarah Winter zum ersten Mal Mutter wurde, hätte sie sich nicht träumen lassen, was sie erwarten würde. Die Geburt ihres Sohnes verlief alles andere als geplant: Ein medizinischer Notfall brachte sie an den Rand des Todes und stellte ihr Leben auf den Kopf. Heute teilt sie ihre Geschichte, um anderen Frauen Mut zu machen.
Triggerwarnung: Du bist schwanger? Dann lies jetzt bitte nicht weiter. Du solltest wissen, das eine Geburt ein natürlicher Vorgang ist, der in der Regel gut für Mutter und Kind verläuft.
Redaktion: Sarah, kannst du uns erzählen, wie deine Geburt verlaufen ist?
Sarah: Natürlich. Es war eine ganz normale Schwangerschaft, bis zur 38. Woche lief alles problemlos. Mein Mann und ich waren voller Vorfreude auf unser erstes Kind. Doch als die Wehen einsetzten, dauerte es nicht lange, bis klar wurde, dass etwas nicht stimmte. Die Herztöne des Babys wurden schlechter, und ich hatte extreme Schmerzen und mir wurde so schwindelig. Ich habe die ganze Zeit gesagt: „Ich kann nicht mehr“ – aber die Hebamme hat immer gesagt: „Ach, das sagen alle. Du schaffst das schon“. Doch ich konnte wirklich nicht mehr und ich dachte irgendwann, dass es das für mich war. Ich machte den Mund auf und wollte mich von meinem Mann verabschieden, weil ich dachte, ich würde sterben. Und dann merkten es auch die anderen. Die Hebamme wurde auf einmal ganz hektisch – ich sah dann das Gesicht meines Mannes. Seine Augen, sein Ausdruck – ich werde das nie vergessen und dachte: „Ja, es ist ernst!“ Und dann ging alles sehr schnell: Ein Not-Kaiserschnitt wurde angeordnet. Ich erinnere mich nur noch daran, wie sich die Stimmung veränderte, ich bekam eine Maske über das Gesicht gezogen. Dann wurde ich bewusstlos.
Redaktion: Was ist danach passiert?
Sarah: Ich bin erst am nächsten Tag im Aufwachraum zu mir gekommen. Mein Mann saß an meinem Bett, unser Sohn war gesund, aber ich hatte schwere innere Blutungen und eine Schwangerschaftsvergiftung. Die Ärzte sagten mir später, dass ich nur knapp überlebt habe. Das zu hören, war ein Schock. Und dann? Habe ich reden wollen, aber ich habe teilweise meine Sprache verloren.
Redaktion: Wie meinst du das genau?
Sarah: Ich konnte einige Worte in meinem Kopf nicht mehr finden. Und einige nicht mehr verstehen. Die Ärzte sagten, ich hätte eine Aphasie. Möglicherweise hätte ich einen kleinen Schlaganfall gehabt, aber glücklicherweise nur einen leichten. Ich konnte reden, und auch längere Sätze sprechen. Manches war aber einfach weg.
Redaktion: Heute sprichst du ganz normal, du hast dich also erholt?
Sarah: Ja, Aphasien können sich zurückbilden, weil die gesunden Hirnzellen in der Nachbarschaft die kranken Gehirnzellen ersetzen können. Ich hatte eine Logopädin und habe ein halbes Jahr gebraucht, dann war ich sprachlich wieder da. Der Erfolg kam nicht plötzlich, er kam eher Schritt für Schritt. Aber ich wusste natürlich auch nie, ob ich es schaffen würde. Es war ein Weg ins Ungewisse und ich stand erst einmal da – mit einem schmerzenden Körper, einem schreienden Säugling und ohne komplette Sprache. Alles in mir hat sich gedreht. Im Nachhinein war ich total überfordert. Aber in dem Moment habe ich das gar nicht so wahrgenommen.
Redaktion: Wie hast du das verarbeitet?
Sarah: Am Anfang gar nicht. Ich war einfach nur froh, dass mein Sohn da war und gesund ist. Dann musste ich ja auch in Therapie. Aber schon bald kam die Erschöpfung. Ich konnte nicht stillen, weil ich zu schwach war, und ich hatte das Gefühl, als Mutter versagt zu haben. Dazu kam der körperliche Schmerz. Ich konnte wochenlang kaum laufen, und jede Bewegung fühlte sich an, als würde ich wieder auseinanderbrechen. Aber was mich am meisten belastet hat, war die Angst. Ich hatte Angst, dass ich meinen Sohn nicht großziehen kann, dass ich nicht stark genug bin. Dass ich nicht mit ihm reden kann oder mit ihm singen kann, wie es andere Mütter tun.
Redaktion: Das ist hart. Können wir uns vorstellen. Was hat dir geholfen, diese Phase zu überstehen?
Sarah: Mein Mann war eine unglaubliche Stütze. Er hat mir nie das Gefühl gegeben, dass ich weniger wert bin, weil ich nicht alles alleine schaffe und er hat sich Urlaub genommen, um mich und unseren Sohn bestmöglich unterstützen zu können. Er war der einzige Mann in der Krabbelgruppe. Und der Stress hat mich natürlich auch funktionieren lassen. Ich musste ja für ein Kind sorgen. Aber ich habe auch irgendwann gemerkt, dass ich mehr Hilfe brauche. Es ging einfach nicht mehr. Ich habe eine Frauenärztin gefunden, die sich auf Frauen in schwierigen Situationen spezialisiert hat. Sie hat mir beigestanden und mich an einen Psychologen überwiesen. In der Therapie bin ich dann erst einmal zusammengebrochen. Ich erinnere mich gut – dass war, als ich meine Angst aussprechen musste, nie wieder richtig sprechen zu können. Und dann habe ich geweint, geweint, geweint. Man kann sich nicht vorstellen, wie sehr es einen einschränkt, wenn man nicht beim Bäcker das Brot bestellen kann, weil einem mittendrin die Worte fehlen. Die Leute schauen dich an, als hättest du sie nicht alle. Auch meine Logopädin war Gold wert. Ich habe von fremden Frauen soviel Kraft bekommen – ich werde ihnen ewig dankbar sein. Es war ein langer Weg, aber ich habe gelernt, mir Zeit zu geben.
Redaktion: Was hat sich für dich durch diese Erfahrung verändert?
Sarah: Alles. Wenn andere Mütter sich über zuckerfreie Dinkelstangen unterhalten oder sich Sorgen über den Gelatinegehalt im Joghurt machen, zucke ich innerlich nur mit den Schultern. Das ist für mich nichts, über das ich mir auch nur geringste Gedanken mache! Wenn ich heute Lust auf drei Stück Torte habe, dann esse ich die einfach. Und wenn mein Sohn Schokolade will, dann bekommt er sie. Nicht immer und nicht ständig, aber ab und an. Ich habe gelernt, dass ich nicht perfekt sein muss, und dass man sich Zeit nehmen muss, glücklich und lustig zu sein und Spaß zu haben. Und ich habe gelernt, Hilfe anzunehmen – das war für mich früher undenkbar. Heute weiß ich, dass das ein Zeichen von Stärke ist.
Redaktion: Was möchtest du anderen Frauen mitgeben, die Ähnliches durchmachen?
Sarah: Das Leben ist, wie es ist und jeder Mensch ist, wie er ist. Anstatt nur danach zu schauen, wie andere was machen, ist es besser, man selbst zu sein. Nur so wirst du auch glücklich.
Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:
Plötzlich sprachlos und plötzlich bist du außerhalb der Norm
In der Regel ist eine Geburt ein glücklicher Tag. Wir feiern, dass wir einen neuen Menschen auf dieser Welt willkommen heißen dürfen, und denken nicht daran, dass es – wie bei allem im Leben – auch zu Komplikationen kommen kann. Die heutige Medizin kann kleine Wunder bewirken, aber spricht man mit älteren Frauen, haben viele Erinnerungen an schwere Geburten. Eigene, die der Nachbarin oder in der Verwandtschaft – und deshalb haben Frauen auch so ein besonderes Band untereinander. Unsere Freundschaften reichen tiefer. Männer reden über Fußball, Frauen prüfen, wie verlässlich die Beziehung ist. Und das liegt daran, dass wir Leben schenken, und dabei unter Umständen auf Hilfe angewiesen sind.
Heute sind Beziehungen oft oberflächlicher. Meine 500 Facebook-Freundinnen können mir nicht beistehen, wenn ich nach der Geburt Hilfe brauche. Aber dafür gibt es unsere Solidargemeinschaft. Wir haben Therapeuten, Ehrenamtliche, Menschen, die helfen wollen, um anderen beizustehen. In Sarahs Fall hat sie genau das getragen. Es war diese Gemeinschaft, die ihr durch die schwierigste Zeit ihres Lebens geholfen hat und die ihr gezeigt hat, dass es in Ordnung ist, anders zu sein, schwach zu sein, Hilfe anzunehmen.
Eine Aphasie – das plötzliche Fehlen von Worten – kann jeden treffen. Sei es durch einen Mini-Schlaganfall, eine Entzündung im Gehirn oder auch durch eine schwere Geburt. Plötzlich fehlen Worte, die uns sonst selbstverständlich waren. Wer erinnert sich an Professor Hastig in der Sesamstraße? Er schlief immer mitten in seiner Rede ein, auf der Suche nach dem richtigen Wort. So ähnlich verhalten sich Menschen mit Wortfindungsstörungen, die versuchen, ihren Zustand zu tarnen. Denn es ist schwer, mit der Welt zu interagieren, wenn wir ihre Sprache nur noch unvollständig beherrschen. Betroffene meiden Bäckereien und gehen nur noch in den Supermarkt – da kann man Dinge kaufen, ohne sie bestellen zu müssen. Und das macht einsam. Glücklicherweise war Sarah in der Lage, alles restlos zu überwinden und durch die Erfahrung hat sie ihre Rolle als Mutter neu definiert: nicht als perfekte, sondern als menschliche Mutter, die alles gibt, was sie kann.
Ihre Lehre ist: Es ist okay, unvollkommen zu sein, oder außerhalb der Norm zu leben. Damit hat sie eine unglaublich gute Chance auf ihr Lebensglück. Die meisten Menschen fügen sich nämlich Stück für Stück „der Norm“. Sie gehen brav in die Schule, lernen, bekommen Kinder, erziehen diese auf die gleiche Art und Weise. Sie machen alles so, wie es eben alle machen. Oft spüren sie, dass etwas schief läuft, wissen aber nicht was. Sie sind wie Schauspieler, die eine Rolle spielen. Nach außen glücklich, aber die Seele weint. Da auszubrechen ist schwer – Normen täuschen Sicherheit vor. Und so leben ganz viele Menschen innerhalb der Norm ein Leben mit innerer Fessel. Solange, bis die Norm ihnen die Luft zum Atmen nimmt. Meistens durch einen Schicksalsschlag – und dann landen sie bei Menschen wie mir. „Sei einfach du selbst“ ist ein Satz, der so leicht klingt, aber auch so schwer zu leben ist. Denn es kostet Mut, auszusteigen und nach den eigenen Werten zu suchen und auch danach zu leben.
Ich habe es schon erlebt, dass ein Rechtsanwalt bei mir saß. Erfolgreich, aber todunglücklich. Am liebsten wäre er Motorradmechaniker geworden, erzählte er mir. Aber seine Eltern hatten ihm dieses teure Studium finanziert und konnten nicht verstehen, wie er diesen tollen Beruf, auf den sie so stolz waren, nicht länger ausüben wollte. Auch seine Frau hatte ihn als erfolgreichen Anwalt geheiratet, und konnte sich mit dem Gedanken nicht anfreunden, einen „Biker“ als Mann zu haben. Und die Kinder besuchten teure Privatschulen und hatten ebenso teure Hobbys. Solche Leben müssen „umgebaut“ werden und das geht oft nicht, ohne dass jemand einen Preis dafür zahlt. Sarahs Chance liegt darin, dass sie diesen Moment, ich nenne ihn auch gerne „Erweckungsmoment“, in jungen Jahren hatte. Sie braucht nicht viel umbauen, sie kann von Beginn an ihr Leben so aufbauen, dass es zu ihr passt.
Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.