„Ich dachte, bei meinem Vater wird alles besser – jetzt bin ich nur ein Befehlsempfänger.“
Erzähl mir dein Leben:
„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.
Ein Interview über falsche Erwartungen, eine strenge Stiefmutter und das Gefühl, benutzt zu werden.
Mit 18 hat Jan* (Name geändert) seine Sachen gepackt und ist zu seinem Vater gezogen. Nach 13 Jahren mit einer alleinerziehenden Mutter hatte er genug vom ständigen Gemecker, von Diskussionen über Hausaufgaben, Ordnung und Verantwortung. Sein Vater? Der coole Typ, der nicht ständig erziehen musste, sondern einfach da war. Endlich Freiheit, dachte er. Endlich Ruhe. Was er bekam, war etwas anderes. Eine Stiefmutter, die nicht nur das Kindergeld sofort umgemeldet hat, sondern auch bei seiner Mutter Unterhalt einzufordern begann. Und ein Vater, der lieber den Mund hält, als sich gegen sie zu stellen. Jetzt sitzt Jan in der Falle: Kein eigenes Geld, kein eigener Wille, kein Ausweg.
Jan, als du zu deinem Vater gezogen bist – was hast du dir erhofft?
Jan:
Ich wollte einfach nur meine Ruhe. Bei meiner Mutter war es ein einziges Genörgel. „Räum dein Zimmer auf. Mach deine Hausaufgaben. Bring den Müll raus.“ Ständig Diskussionen. Ich hab mich so eingeengt gefühlt. Keine Entscheidung durfte ich selbst treffen, alles musste immer abgesprochen werden. Ich hatte das Gefühl, dass ich nie einfach mal selbst bestimmen kann. Mein Vater dagegen? Locker. Er hat nie viel gesagt, wenn ich da war. War immer entspannt, hat mich nie unter Druck gesetzt. Und ich dachte: Dort kann ich endlich mal atmen.
Und dann? War es so, wie du es dir vorgestellt hast?
Jan:
Am Anfang ja. Die ersten Tage waren richtig gut. Keine nervigen Regeln, keine langen Diskussionen. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Aber dann hab ich gemerkt: Nicht mein Vater regiert hier – sondern seine neue Frau. Ich dachte immer, meine Mutter wäre anstrengend. Aber meine Stiefmutter? Die führt hier ein Regiment, dagegen war es bei meiner Mutter ein Feriencamp. Von Tag eins an hat sie mir klargemacht, dass ich hier nichts zu melden habe. Und dass ich jetzt mal Verantwortung lernen müsste. Ich solle gefälligst im Haushalt helfen, mein eigenes Essen machen, mein Zimmer ordentlich halten – ja, und sogar die Einkäufe mittragen. Das Lustige ist: Genau das hat meine Mutter auch immer verlangt. Nur dass ich es bei ihr für überzogen gehalten habe – und hier ist es plötzlich Pflicht.
Hat dein Vater nichts dazu gesagt?
Jan:
(lacht bitter) Mein Vater? Der sagt gar nichts. Der nickt nur, wenn sie redet. Ich dachte immer, er ist der coole, lockere Typ. Nein, er ist einfach nur jemand, der keinen Stress will. Also hält er sich raus. Und wenn ich mich beschwere, dass sie mich herumkommandiert, dann sagt er: „Naja, sie hat schon recht. Du musst ja mal lernen, wie das Leben läuft.“ Aha. Also vorher war meine leibliche Mutter nur zu faul, und jetzt bin ich plötzlich jemand, der „mal erwachsen werden muss“? Der hat mich im Grunde genommen aufgehetzt – und jetzt kneift er.
Wann hast du gemerkt, dass du dich geirrt hast?
Jan:
Sofort. Am ersten Tag hat sie direkt das Kindergeld umgemeldet. Kein Wort darüber mit mir oder meiner Mutter gesprochen – einfach erledigt. Und dann hat sie meine Mutter angeschrieben, dass sie jetzt Unterhalt zahlen soll. Ich dachte, ich ziehe zu meinem Vater, weil ich ihn liebe. Weil ich lieber bei ihm sein will. Und dann merke ich, dass ich für seine Frau einfach nur ein finanzieller Gewinn bin. Dass es nie darum ging, dass ich hier willkommen bin – sondern nur darum, dass es sich rechnet. Das hat wehgetan. Richtig wehgetan.
Hast du mit deinem Vater darüber gesprochen?
Jan:
Ja. Und er hat gesagt, dass das „ganz normal“ ist. Dass das eben so läuft. Dass meine Mutter ja jetzt Geld spart, weil sie mich nicht mehr versorgen muss, also ist es doch nur fair, dass sie was zahlt. Aber ich? Ich habe gar nichts gespart. Ich stehe jetzt hier, habe keinen Cent mehr in der Tasche, muss mir jeden Schritt sagen lassen und hab das Gefühl, dass ich einfach nur eine Art Bonuszahlung für die beiden bin. Ich bekomme weniger Taschengeld als früher und muss mir davon noch alle meine Klamotten kaufen.
Was würdest du jetzt am liebsten tun?
Jan:
Weg. Einfach nur weg. Ich merke jetzt, dass ich keinen von beiden wirklich will. Bei meiner Mutter konnte ich nicht mehr atmen, aber hier ersticke ich genauso – nur auf eine andere Art. Ich möchte einfach irgendwo leben, wo ich selbst entscheiden kann. Ohne Druck. Ohne Erwartungen. Aber ich geh noch zur Schule. Ich hab kein eigenes Einkommen. Also kann ich nichts machen. Ich sitze fest – zwischen einer Mutter, die ich verletzt habe, und einem Vater, der mir jetzt zeigt, dass ich ihm eigentlich auch nicht wirklich wichtig bin.
Hast du noch Kontakt zu deiner Mutter?
Jan:
Kaum. Ich schäme mich. Ich bin mit so einem Knall gegangen, hab ihr Vorwürfe gemacht, hab gesagt, dass sie mich nicht ernst nimmt. Und jetzt? Jetzt ist mir klar, dass sie mir nicht das Leben schwer gemacht hat, sondern mich einfach nur darauf vorbereiten wollte. Das Schlimmste war Weihnachten. Meine Stiefmutter entschied, dass wir Weihnachten in Urlaub fahren. Mit ihrem Vater, ihren Kindern und natürlich auch mit mir. Und dann saß meine Mutter zu Weihnachten mutterseelenallein Zuhause. Ich habe nur angerufen und mich dabei so schäbig gefühlt. Ich kann sie nicht anrufen und sagen: „Hey, ich hab mich geirrt, es ist bei Papa schlimmer.“ Ich will nicht wieder der sein, der zurückkommt, weil er es nicht alleine geschafft hat.
Glaubst du, dass es irgendwann anders wird?
Jan:
Keine Ahnung. Ich hoffe, dass ich irgendwann mein eigenes Ding machen kann. Raus hier. Meine eigenen Regeln, meine eigenen Entscheidungen. Ich wünschte, ich hätte das vorher gewusst – dass Freiheit nicht bedeutet, dass einem alles abgenommen wird. Dass man sich kümmern muss, wenn man unabhängig sein will. Ich dachte, ich entkomme der Bevormundung meiner Mutter – und bin in eine noch viel größere Kontrolle gerutscht. Der einzige Unterschied ist: Hier bin ich nicht mal jemand, der geliebt wird. Sondern nur jemand, der sich „lohnen“ muss.
Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:
„Warum kannst du deine Mutter nicht anrufen – und was kannst du jetzt tun?“
Jan, du stehst an einem Punkt, den viele irgendwann erleben: Du hast eine Entscheidung getroffen, die sich jetzt falsch anfühlt. Und statt sie zu korrigieren, hält dich dein Stolz davon ab, zurückzugehen.
Ich verstehe, dass du Angst hast. Nicht nur davor, was deine Mutter sagen könnte, sondern auch davor, was es mit dir macht, wenn du zugibst, dass du dich geirrt hast. Denn wenn du sie anrufst, dann musst du dir eingestehen, dass du deine Situation falsch eingeschätzt hast. Dass deine Mutter vielleicht nicht die Feindin war, die du in ihr gesehen hast – und dass du deine Freiheit nicht dort gefunden hast, wo du sie vermutet hast.
Aber Jan, Erwachsenwerden bedeutet nicht, dass man immer die richtigen Entscheidungen trifft. Es bedeutet, dass man bereit ist, Verantwortung für seine Fehler zu übernehmen – und aus ihnen zu lernen. Also, was kannst du jetzt tun?
Hör auf, dich selbst zu bestrafen
Du hast einen Fehler gemacht. Und? Willkommen im Leben. Es wird nicht das letzte Mal sein. Aber du hast immer noch die Möglichkeit, Dinge zu ändern. Statt dich selbst in dieser Situation festzuhalten, könntest du dir erlauben, nach einer Lösung zu suchen – ohne die Angst davor, wie das aussieht. Vielleicht hast du Angst, dass ein Gespräch mit ihr bedeutet, dass du klein beigibst. Dass du zurückgehst, weil du gescheitert bist. Aber das stimmt nicht. Du kannst mit ihr reden, ohne wieder zu ihr zu ziehen. Du kannst ihr sagen, dass du verstanden hast, warum sie so war, wie sie war – ohne dass du um Hilfe bittest.vEin Gespräch muss kein Rückschritt sein. Manchmal ist es einfach nur ein Zeichen von Größe.
Dein Vater wird dich nicht retten – also musst du dich selbst retten
Du hast gehofft, dass dein Vater derjenige ist, der dir die Freiheit gibt, die du suchst. Aber jetzt siehst du, dass er gar nicht in der Lage ist, dir das zu geben. Er hat seine Entscheidung getroffen: Er lässt seine Partnerin bestimmen. Also bleibt nur eine Option: Du musst dich selbst retten. Das heißt nicht, dass du von heute auf morgen ausziehen kannst. Aber es heißt, dass du einen Plan brauchst. Welche Möglichkeiten hast du, unabhängig zu werden? Gibt es eine Möglichkeit, einen Nebenjob zu machen? Gibt es jemanden, der dich unterstützen kann – vielleicht eine Vertrauensperson außerhalb deiner Familie? Du bist aus dem Gefühl heraus gegangen, dass du nicht frei genug warst. Jetzt merkst du, dass du noch weniger Freiheit hast. Aber was ist es eigentlich, was du wirklich willst? Wie sieht dein Leben aus, wenn du es selbst gestalten kannst? Nicht als Trotzreaktion, nicht als Flucht – sondern als echte Entscheidung.
Die wichtigste Frage: Bist du bereit, Verantwortung für dich zu übernehmen?
Unabhängigkeit bedeutet nicht nur, nicht mehr unter dem Dach der Eltern zu leben. Es bedeutet, eigene Entscheidungen zu treffen – und die Konsequenzen zu tragen. Du wolltest keine Bevormundung mehr, und jetzt merkst du: Freiheit heißt nicht, dass einem nichts mehr gesagt wird. Es heißt, dass man sich selbst kümmern muss. Du kannst dich jetzt entscheiden: Willst du weiter passiv bleiben und auf eine Lösung warten – oder willst du aktiv werden?
Das heißt nicht, dass du alles sofort ändern kannst. Aber du kannst damit anfangen, dir selbst ehrlich zu antworten:
- Was willst du wirklich – nicht nur als Reaktion auf andere?
- Was kannst du jetzt tun, um deine Situation zu verbessern?
- Und was hält dich wirklich davon ab, mit deiner Mutter zu reden? Dein Stolz – oder deine Angst, dass sie dir Recht gibt?
Jan, du hast immer noch die Kontrolle über dein Leben. Die Frage ist nur, ob du bereit bist, sie zu übernehmen.
Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.