
„Das Leben passiert während Du Pläne machst“
Werdende Mutter überlebt schwere Hirnblutung
Dass die schönsten persönlichen Pläne im Leben schnell auf der Kippe stehen können, weiß Julia Sanders* spätestens, seit sie während der Schwangerschaft mit ihrer Tochter völlig unerwartet eine schwere Hirnblutung erlitt. Buchstäblich an einem einzigen Tag wurde das Leben der werdenden Mutter auf den Kopf gestellt. Kurz vor Beginn ihres Mutterschutzes kam sie als Notfall ins Uni-Klinikum Münster. Nur eine sofortige Intervention von Neuroradiologie und Neurochirurgie konnte damals das Leben von Julia Sanders und ihrem Baby retten.
Wenn Julia Sanders* zwei Jahre nach den Ereignissen ins UKM kommt, dann, so sagt sie, „geht mein Herz auf“. So intensiv fühlt es sich in der Rückschau für sie an, dass sie von sich aus über die für sie prägenden Wochen reden wollte, um anderen Mut zu machen. Aber der Reihe nach… Am 22. März 2023 moderiert die 33-Jährige im beruflichen Kontext eine Veranstaltung als sie – von jetzt auf gleich – plötzlich nicht mehr sprechen kann und sich fortwährend übergeben muss. Ihre rechte Körperhälfte fühlt sich schwach, fast taub an.
Als Notfall ins Krankenhaus
Als die schwangere Patientin mit dem Rettungswagen ins nahegelegene UKM (Universitätsklinikum Münster) kommt, zeigen die CT-Bilder eine ausgeprägte Hirnblutung. Die Ursache dafür: Eine bisher nicht bekannte, angeborene aterio-venösen Malformation des Gehirns – „Ein Knäuel aus Arterien und Venen, dass kleine Kurzschlüsse enthält und die normalerweise dazwischenliegenden Kapillaren im Blutkreislauf umgeht“, wie Priv.-Doz. Dr. Paul Stracke, Leiter der Sektion interventionelle Neuroradiologie am UKM, erklärt. „Dieses sogenannte AVM ist selten und kommt nur bei etwa ein bis zwei von 10.000 Menschen überhaupt vor“, sagt er weiter. Dass die werdende Mutter Julia Sanders dann noch das Pech hat, dass diese Gefäßanomalie plötzlich blutete, war wohl am ehesten ihrem Zustand zuzuschreiben. „Während intrazerebrale Blutungen aufgrund einer AVM nur bei ein bis zwei Prozent der Betroffenen vorkommen, wird das Phänomen bei Schwangeren häufiger beschrieben“, erläutert Priv.-Doz. Dr. Michael Müther, Oberarzt in der Klinik für Neurochirurgie am UKM. Zusammen mit seinem Kollegen Paul Stracke beriet er, wie man möglichst schnell die Blutung im Kopf von Julia Sanders stoppen könnte, um neurologische Folgeschäden zu minimieren.
Im ersten Schritt eliminierte Neuroradiologe Stracke in einem Eingriff das Gefäßknäuel per Embolisation: „Wir haben die Gefäße der AVM quasi verklebt – wie mit ‚Sekundenkleber‘, wenn man so will. So konnten wir sehr schnell die Quelle der Blutung stilllegen. Die Herausforderung war, dass wir unter dem hohen zeitlichen Druck alle Gefäße erwischen.“ „Als das gelungen war, kam Frau Sanders zu uns in den nur wenige Meter entfernten neurochirurgischen OP, wo wir über eine Schädelöffnung die Blutung entfernt haben“, schließt Müther. Die Patientin überlebt und – welch Glück – ihre ungeborene Tochter scheint von den dramatischen Ereignissen völlig unbeeindruckt. Trotz des schnellen Einschreitens behält Julia Sanders allerdings eine rechtsseitige Lähmung und kognitive Einschränkungen zurück. Schreiben, Uhren lesen, telefonieren: Nichts davon war zu diesem Zeitpunkt möglich. Mit dem Ziel vor Augen, eine gesunde Mutter zu werden, die den Alltag alleine meistern kann, trat Sanders eine sechswöchige Reha an.
Leni kam zu früh
Sanders erinnert sich: „Danach haben mein Mann und ich erst einmal einen Kurzurlaub angeschlossen, um danach gemeinsam wieder zuhause zu starten.“ Aber wie es im Leben so oft ist: In dem Moment, wo endlich wieder Ruhe einkehren könnte, ist es damit auch schon wieder vorbei. An Tag 1 nach dem Urlaub fährt Julia Sanders mit vorzeitigen Wehen und Blasensprung noch einmal ans UKM – diesmal in die Geburtshilfe. „Ich war aber erstaunlich gelassen und fühlte mich von der ersten Minute im UKM bestens aufgehoben“, erinnert sich die Münsteranerin. Weniger als drei Stunden dauert die Geburt von Leni die energisch schreit, als sie schließlich per Kaiserschnitt in der 32. Schwangerschaftswoche das Licht der Welt erblickt. „Wir haben die warmherzige und professionelle Unterstützung auf der Frühchenstation sehr zu schätzen gewusst” lobt Julia Sanders. „Die Pflegenden haben mir hinterher erzählt, dass sich meine Tochter in den drei Wochen auf der neonatologischen Intensivstation recht charakterstark gezeigt hat“, schmunzelt Sander. Mit anderen Worten: Leni macht sich, wenn nötig, bemerkbar. Eine gute Voraussetzung fürs Leben insgesamt, findet Julia Sanders. Rückblickend sagt sie, dass es wichtig war, dass sie etwas vor Augen hatte, für dass es sich lohnt zu kämpfen.
*Name von der Redaktion geändert. Echter Name ist der Redaktion bekannt.
Foto (UKM/Heine): (v.l.) Die Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen Shirin Niasi und Isabell Prietzel, Kerstin Dzionsko, stellvertretende Stationsleitung der neonatologischen Station, sowie PD Dr. Paul Stracke und PD Dr. Michael Müther treffen eine gesunde Julia Sanders zwei Jahre nach den dramatischen Ereignissen.
Kommentar von Jonas, unserem Experten für Neurobiologie:
„Das Leben passiert, während Du Pläne machst“ – und manchmal hält es den Atem an.
Manchmal staunt man nicht schlecht, was ein Menschenleben so alles aushalten kann – und welche Wunder in weißen Kitteln tagtäglich möglich sind. Julia Sanders’ Geschichte beginnt wie viele: Mit Hoffnung, Vorfreude, Plänen. Doch dann bricht etwas über sie herein, das man sich nicht ausdenken kann – eine Hirnblutung während der Schwangerschaft. Ein medizinischer Albtraum. Und doch wird daraus eine Geschichte über Rettung, über Zusammenhalt – und über ein kleines Mädchen, das beschlossen hat, trotzdem zu kommen.
Es ist leicht, Medizin auf Technik und Diagnose zu reduzieren. Aber hier zeigt sich, was moderne Medizin wirklich kann: In Sekunden Entscheidungen treffen. Fachübergreifend zusammenarbeiten. Mensch bleiben, wenn es um alles geht. Und dann stehen da auf einem Foto zwei Ärzt:innen, drei Pflegekräfte – und eine Frau, die sich zwei Jahre später wieder auf beiden Beinen ins Leben zurückgekämpft hat.
Was mir an dieser Geschichte besonders gefällt? Dass sie Mut macht. Und dass sie zeigt, dass man manchmal nicht stark ist, weil alles glatt läuft – sondern trotzdem. Und dass Stärke manchmal ganz leise ist. Sie liegt in Reha-Übungen, die keinen Applaus bekommen. In Nächten auf der Frühchenstation. In der Entscheidung, nicht aufzugeben. Und in einem Lächeln, wenn man sagt: „Ich komme gerne zurück ans UKM – denn hier hat mein neues Leben begonnen.“
Herzlichen Dank an alle, die das möglich gemacht haben.